Venus und Holle kamen zu ihnen. Holle wirkte ungeheuer traurig, Venus unverhohlen neidisch.
Holle sagte: »Wilson ist schon an Bord und überprüft die Systeme. Ich … hier.« Sie gab Helen eine kleine Kugel aus rostfreiem Stahl. Es war ein Globus der Erde III, hergestellt in der Maschinenwerkstatt der Arche. »Ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnerst, aber bei der Erde II haben wir das auch so gemacht. Wir haben sie den Kindern ins Gepäck gesteckt, als kleine Überraschung für sie. Ich wollte dir deinen persönlich geben.« Impulsiv umarmte sie Helen. »Tut mir leid, dass ich dir das antun muss.«
Helen schob sie weg. »Es kann dir gar nicht leid genug tun«, sagte sie heftig.
Holle schluckte das einfach nur, wie sie alle Reaktionen darauf geschluckt hatte, was sie seit dem Tag ihrer Machtübernahme um der Crew, um der Mission willen getan hatte. Vielleicht war das letztendlich Holles Rolle, dachte Helen – nicht so sehr die der Führerin als vielmehr die eines Gefäßes für all die Schuldgefühle wegen der Maßnahmen, die nötig gewesen waren, damit der Rest überleben konnte. Nichtsdestoweniger verspürte Helen eine Aufwallung von neuem Hass.
Venus kam nach vorn und machte viel Aufhebens um die Verschlüsse von Helens Anzug. »Vergiss nicht, da unten wird es verdammt kalt sein. Die nächste Generation wird’s nicht merken, aber ihr schon. Packt euch dick ein, bevor ihr die Luke öffnet. « Sie schob sich zurück. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Herrgott, du wirst mir fehlen. Du warst die beste Schülerin, die ich je hatte. Gib dein Wissen an die Kinder weiter. Ihr dürft nicht in die Steinzeit zur?ckfallen, nachdem ihr diese weite Reise hinter euch gebracht habt.?
»Mache ich. Was ist mit dir, Venus? Was kommt als Nächstes?«
Venus warf Holle einen raschen Blick zu. »Naja, wir haben da so eine Art Plan. Sobald wir die Meldung bekommen, dass ihr sicher gelandet seid, schicken wir Botschaften per Mikrowellenlaser zur Erde und zur Erde II. Dann wird in rund hundert Jahren jeder, der ins All horcht, die freudige Nachricht empfangen.
Anschließend haben wir vor, das System dieser M-Sonne zu erforschen.« Sie schnippte mit den Fingern, klick-klick. »Winzig kleine Warp-Sprünge, von Planet zu Planet. Zane hätte das bestimmt liebend gern ausgearbeitet. Wir schicken euch die Ergebnisse, Oberflächenkarten, innere Strukturen, was immer wir rausfinden. Sorgt dafür, dass der Funkempfänger funktioniert. Es wird ein Vermächtnis für die nächste Generation sein, wenn sie bereit ist, auf Forschungsreisen zu gehen, nicht wahr?«
»Und dann?«
Venus breitete die Arme aus. »Zum Teufel, der Himmel gehört uns. Wir werden einfach weiterforschen. Vielleicht finden wir die Erde IV, die Erde V und die Erde VI. Wir melden uns per Laser und erzählen es euch. Vielleicht kommen wir auch zurück, bevor das Licht hier ist, und erzählen es euch persönlich. Geh jetzt!«, sagte sie. Ihre Stimme klang auf einmal barsch. »Geh, bevor sie die verdammte Luke schließen und dich zurücklassen!«
Die meisten Kinder waren bereits an Bord. Jeb glitt durch die Luke. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Helen drehte sich in der Luft und sank selbst hinab, mit den Füßen voran. Der Druckanzug fühlte sich seltsam an, zu sauber, und er raschelte bei jeder Bewegung.
Sobald sie im Shuttle war, schaute sie zurück. Holles Gesicht, erfüllt von Reue und Schmerz, war das Letzte, was sie von der Arche sah. Dann schloss Venus die Luke.
97
Die Innenausstattung des kleinen Raumfahrzeugs war schlicht. Die enge, schlauchartige Kabine war mit Sitzreihen vollgepackt, die man behelfsmäßig aus Ausrüstungsgegenständen der Arche hergestellt und zwischen die ursprünglich vorgesehenen fünfundzwanzig Liegen gequetscht hatte. Vorn in der Nase, vor einer rudimentären Instrumentenkonsole und verschrammten Panoramafenstern, waren zwei Sitze etwas erhöht angeordnet. Wilson saß bereits auf dem linken Sitz und führte System-Checks durch, und Helen begab sich zum rechten Sitz. Er reichte ihr eine Snoopy-Funkhaube, und sie setzte sie auf.
Das Shuttle war im Grunde ein vollautomatischer Gleiter. Die charakteristischen Merkmale der Atmosphären- und Schwerkraftprofile der Erde III waren in seinen Bordcomputer einprogrammiert. Es war intelligent genug, um solch offenkundigen Hindernissen wie Ozeanen, Geröllfeldern und Schneewehen auszuweichen, und hätte sogar den gesamten Flug einschließlich der Landung eigenständig absolvieren können. Aber in den Konstruktionsbüros im verschwundenen Denver hatte man erkannt, dass die erste antriebslose Landung auf einer vollständig fremden Welt wahrscheinlich von Menschenhand durchgeführt werden musste. Ab ein paar Hundert Metern Höhe konnte Wilson also zeigen, was in ihm steckte; aus diesem Grund war der verachtete Zweiundsechzigjährige an Bord des Shuttles, während Helens Kinder an Bord der Arche geblieben waren. Helen wiederum war die einzige halbwegs brauchbare Copilotin auf der Arche. Aber sie war zuvor noch nie in einer Atmosph?re geflogen, nicht einmal als Passagierin, und sie betete, dass die rudiment?ren F?higkeiten, die sie sich im Verlauf ihrer Ausbildung und bei der Zusammenarbeit mit Wilson in HeadSpace-Sims w?hrend des letzten Monats angeeignet hatte, nicht ben?tigt werden w?rden.
Während sie sich anschnallte, schaute sie über die Schulter nach hinten. Die Kinder waren gut eingepackt, ihre orangefarbenen Druckoveralls leuchteten. Die wenigen Jugendlichen, die Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, verteilten sich zwischen den anderen. Die Zehnjährigen schienen Angst zu haben, aber die Kleinkinder schliefen größtenteils in dem warmen, summenden Shuttle. Helen sah die kleine Sapphire Murphy Baker, mit ihren vier Jahren die Jüngste an Bord; sie und ein Achtjähriger hielten sich an der Hand. Jeb saß ganz hinten, passte theoretisch auf die Kinder auf und war bereit, im Fall einer Krise einzugreifen. Als er Helens Blick auffing, winkte er ihr zu. Sie versuchte zu lächeln, aber die Traurigkeit in seinem Gesicht war unübersehbar.
So würden sie eine neue Welt besiedeln, mit einem Haufen Kinder, drei Erwachsenen, einem Laderaum, in dem sich ein Atomgenerator, Saatgut, Werkzeug und ein paar aufblasbare Wohnmodule befanden, und gebrochenen Herzen.
»Wir müssen wahnsinnig sein«, sagte Helen leise.
»Diejenigen, die uns ins All geschickt haben, waren wahnsinnig. « Wilson schaute zu ihr herüber. »Bist du bereit?«
»Bereiter geht’s nicht.«
Er legte einen Schalter um, einen schweren Handknebel. »So, das wär’s. Ich habe das automatische Programm gestartet. Jetzt wird dieses Baby eigenständig bis zum Boden hinunterfliegen, oder jedenfalls fast. Gleich geht’s los. Drei, zwei, eins …«
Verriegelungen lösten sich klappernd, und außen am Rumpf der Raumfähre lärmten Korrekturtriebwerke. Helen spürte ein Ziehen im Magen. Einige der schlafenden Kinder bewegten sich und jammerten leise.
»Wir haben uns von der Arche gelöst. Das war’s, wir fliegen solo. Gewöhn dich lieber an diese Beschleunigung, damit werden wir’s heute Morgen noch reichlich zu tun bekommen. «
»Solo jetzt und für den Rest unseres Lebens … wow.« Ein leichtes Schwindelgefühl befiel sie; die Innenohren sagten ihr, dass sie sich um die Längsachse drehten.
»Das ist die Inspektionsrolle. Damit Hawila überprüfen kann, ob die Kacheln des Hitzeschilds in den letzten vierzig Jahren nicht abgefallen sind.«
Venus Jennings Stimme kam knisternd aus einem Lautsprecher. »Shuttle B, Hawila. Alles klar für die Landung, Wilson.«
»Verstanden. Danke, Venus.«
Die Rotation hörte auf. Helen schaute aus dem Fenster. Sie befanden sich irgendwo über der Nachtseite des Planeten. Sie flogen rückwärts, die Köpfe zu den Sternen, und die neue Welt drehte sich unter ihnen weg, pechschwarz bis auf das purpurrote Auflodern von Unwettern und ein mürrisches rotes Glühen, das wie eine riesige Vulkan-Caldera aussah. Laut Plan sollten sie über der Nachthälfte des Planeten in die Atmosphäre eintreten, und ihre Eintrittsflugbahn sollte sie mit ausreichendem Schwung um die Krümmung der Welt herumtragen, so dass sie auf der ewigen Tagseite landen konnten.
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