„Das wirst du auch nicht müssen“, sagte er mit beruhigender Stimme als wäre er Zeuge der Geschehnisse gewesen. „Ich bin jetzt hier.“
Sie schrie und stöhnte als ein neuer Schmerz sie durchfuhr. Es fühlte sich an, als würde sie entzweigerissen.
„Lehn dich zurück!“ ordnete er an.
Sie sagte wie ihr gesagt – und eine Sekunde später spürte sie den enormen Druck zwischen ihren Beinen.
Dann folgte ein Geräusch, das sie erschreckte.
Ein Wimmern.
Der Schrei eines Babys.
Ihr wurde vor Schmerz fast Schwarz vor Augen.
Sie beobachtete die geschulten Griffe des Apothekers während sie zwischen Wachsein und Bewusstseinsverlust pendelte. Er zog das Kind aus ihr und griff nach etwas Scharfem, um die Nabelschnur zu durchtrennen. Sie beobachtete wie er das Baby mit einem Tuch abrieb, Lunge, Nase und Hals öffnete.
Das Wimmern und Schreien wurde lauter.
Rea brach in Tränen aus. Dieses Schreien brachte ihr so viel Erleichterung, drang in ihr Herz und trug sogar über das Hämmern der Dorfbewohner hinweg. Ein Kind.
Ihr Kind.
Er war am Leben. Gegen alle Widrigkeiten hatte er das Licht der Welt erblickt.
Rea nahm kaum noch wahr, wie der Apotheker ihn in eine Decke wickelte. Doch dann spürte sie seine Wärme als er ihr ihn in den Arm legte. Sie spürte sein Gewicht auf ihrer Brust und sie drückte ihn an sich während er schrie und weinte. Sie hatte noch nie solche Freude gespürt, Tränen quollen ihr aus den Augen und rannen ihr das Gesicht hinab.
Plötzlich ein neues Geräusch: das Getrappel von Pferden. Das Klirren von Rüstungen. Dann Schreie. Der blutlechzende Mob verstummte – jetzt waren sie es, auf die man es abgesehen hatte.
Rea lauschte, verblüfft versuchte sie zu verstehen. Dann spürte sie eine Welle der Erleichterung. Natürlich. Der Adlige war zurück, um sie zu retten. Um sein Kind zu retten.
„Gott sei dank“, sagte sie. „Die Ritter kommen zu meiner Rettung.“
Rea spürte Zuversicht in sich aufkeimen. Vielleicht würde er sie schützen können. Vielleicht würde sie ein neues Leben beginnen können. Ihr Junge würde in einem Schloss aufwachsen, ein ehrbarer Herr werden und vielleicht würde sie das auch. Ihr Kind würde ein gutes Leben haben. Sie würde ein gutes Leben haben.
Rea überkam eine Flut der Erleichterung und Tränen strömten ihr über die Wangen.
„Nein“, korrigierte sie der Apotheker mit schwerer Stimme. „Sie kommen nicht, um dein Kind zu retten.“
Sie blickte ihn verwirrt an. „Warum sonst würden sie kommen?“
Er blickte sie grimmig an.
„Um es zu töten.“
Sie starrte ihn angewidert an, ein kalter Schauer des Schreckens überkam sie.
„Sie vertrauen nicht darauf, dass die Dorfbevölkerung imstande ist, es zu Ende zu bringen“, fügte er hinzu. „Sie wollten sicherstellen, dass es richtig getan wird und mit ihren eigenen Händen.“
Es war als würde ihr Eis durch die Adern schießen.
„Aber…“ stammelte sie und versuchte zu verstehen, „… mein Kind gehört dem Ritter. Ihrem Befehlshaber. Warum? Warum würden sie es töten wollen?“
Fioth schüttelte finster dreinschauend den Kopf.
„Diese Männer dort draußen gehören nicht zu ihm. Sie sind seine Rivalen. Sie wollen den Tod des Kindes. Sie wollen deinen Tod.“
Sie sah die Dringlichkeit in seinem Blick und erkannte mit Grauen, dass er die Wahrheit sprach.
„Ihr müsst beide von hier fliehen!“ drängte er. „Jetzt!“
Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da erscholl das dumpfe Geräusch einer Eisenstange, die gegen die Tür gerammt wurde. Dieses Mal waren es nicht die harmlosen Sicheln der Bauern, sondern ein zu diesen Zwecken gebauter Rammbock der Ritter. Als er gegen die Tür donnerte, bebte sie.
Fioth drehte sich zu ihr mit vor Panik geweiteten Augen.
„GEH!“ rief er.
Rea blickte mit Panik im Blick zu ihm zurück und fragte sich, ob sie in ihrem Zustand überhaupt stehen konnte.
Er griff jedoch nach ihr und stellte sie auf ihre Füße. Sie schrie vor Schmerzen, jede Bewegung war die reinste Qual.
„Bitte!“ rief sie. „Es tut so weh! Lass mich sterben!“
„Sieh an, was in deinen Armen lieg!“ erwiderte er. „Willst du, dass er stirbt?“
Rea blickte zu dem weinenden Kind in ihren Armen und als ein neuer Stoß die Tür erschütterte, wusste sie, dass er Recht hatte. Sie konnte ihn hier nicht sterben lassen.
„Was ist mit Ihnen?“ stöhnte sie. „Sie werden Sie auch töten.“
Er nickte resigniert.
„Ich habe viele Sonnenzyklen gelebt“, antwortete er. „Wenn ich so ein wenig Zeit für dich gewinnen kann, sodass du einen sicheren Ort finden kannst, werde ich gerne das geben, was mir von meinem Leben noch bleibt. Geh jetzt! Lauf in Richtung des Flusses. Nimm eines der Boote und flieh von hier! Schnell!“
Er zerrte sie hinaus noch bevor sie die Chance hatte darüber nachzudenken. Er führte sie zu einem Seiteneingang seiner Festung und enthüllte eine hinter der Wandverkleidung verborgen liegende Tür, die in den Stein gehauen worden war. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen und sie öffnete sich mit einem Krächzen. Muffige und kalte Luft schlug ihnen entgegen.
Kaum hatte er sie geöffnet, da stieß er sie und das Baby auch schon hinaus.
Rea befand sich nun wieder mitten im Schneegestöber. Sie stolperte ihr Kind fest an sich gedrückt das steile, schneebedeckte Ufer entlang. Sie schlitterte und rutschte, glaubte die Welt würde jeden Augenblick unter ihr zusammenbrechen und war kaum im Stande, sich zu bewegen. Als sie so voranstolperte, schlug in einem nahegelegenen Baum der Blitz ein. Flammen loderten auf.
Rea fiel zu Boden, und als sie sich zusammenrollte, um so ihr Kind vor dem harten Aufprall schützen zu können, spürte sie, wie sich die Kette, die der Ritter ihr für das Kind gegeben hatte, von ihrem Hals löste und in die Flamen fiel. Rea griff nach einem Zweig, um sie aus den Flammen zu retten. Der Zweig fing Feuer und doch gelang es ihr, die Kette aus den Flammen zu ziehen. Einen Moment lang baumelte sie an dem Stöckchen in der Luft. Mit Grauen musste sie mitansehen, wie der Arm ihres Kindes sich nach der Kette ausstreckte.
Das Baby schrie auf, und Rea warf die Kette zur Seite ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wer sie ihr gegeben hatte. Ensetzt erblickte sie den makellosen Umriss des Anhängers auf dem Arm des Kindes. All das erschien ihr ein weiteres Vorzeichen zu sein.
Rea stolperte ein weiteres Mal und rutschte den Abhang hinab. Dieses Mal landete sie auf ihrem Hintern. Sie flog ein Stück und schrie als der Abhang sie geradewegs zum Ufer hinab beförderte.
Sie atmete erleichtert auf, denn sie erkannte, dass es ihr ohne die Rutschpartie wohl nicht gelungen wäre, den ganzen Weg hinabzulaufen. Sie blickte ehrfürchtig den Hang hinauf, erschrocken über den weiten Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte und musste entsetzt feststellen, dass die Ritter Fioths Festung in Brand gesteckt hatten. Die Flammen schlugen trotz des Schnees bereits hoch und eine furchtbare Welle der Schuld überkam sie bei dem Gedanken, dass der alte Mann sein Leben für sie gelassen hatte.
Einen Moment später strömten Ritter durch die Hintertür und Pferde galoppierten um die Festung herum auf sie zu. Sie sah, dass sie entdeckt worden war und sie auf sie zustürmten ohne auch nur eine Sekunde Luft zu holen.
Rea drehte sich herum und versuchte davonzulaufen, doch es ging nicht weiter. Ihr Zustand machte das Davonrennen außerdem sowieso unmöglich. Das einzige was sie tun konnte, war es, am Ufer auf ihre Knie zu sinken. Sie wusste, dass sie hier sterben würde. Es gab keinen anderen Ausweg mehr.
Dennoch hegte sie noch Hoffnung für ihr Kind. Sie blickte sich um und sah einen Haufen kleiner Stöcke, vielleicht das Nest eines Bibers, der so gebaut worden war, dass er einem Körbchen ähnelte. Sie griff danach und legte flink ihr Kind hinein. Sie testete es und stellte erleichtert fest, dass es schwamm.
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