Da plötzlich kehrte unerwartet die Musik zurück. Der Nebel schloß sich um sie, und das Licht verschwand und nahm Getöse und Hitze mit sich. Hustend, keuchend und halb im Sattel hängend, sah Sturm zu, wie sich der Nebel auf tat und die bedrohliche, ledrige Gestalt seines Verfolgers verschluckte. Die Hitze und das Gebrüll ebbten ab.
Und die Musik echote von den Felsen um sich herum. Diesmal eine andere Melodie – ein schneller, witziger Tanz, der so mitreißend war, daß die Nachtigallen, die in den dunklen Nischen der Eichen und Vallenholzbäume versteckt saßen, trillernd zu antworten begannen. Luin fiel langsam in Trab, dann in Schritt, und der ausgepumpte, erschütterte Sturm konnte sich endlich auf ihren Rücken setzen.
»Bei Branchala, das war vielleicht was!« murmelte der junge Mann. Er sah sich um, als der Nebel zerstob und wie Regen in den harten, kargen Boden sank. Über ihm tauchten die Sterne des solamnischen Nachthimmels auf – erst die Monde, dann der helle Sirion und Reorx. Nach ihnen geschätzt war er meilenweit südlich von seinem Ausgangspunkt.
»Was… was war das, Luin?« fragte er. »Und… wo sind wir?«
Der Nebel hatte sich jetzt aufgelöst, so daß Sturm weit über die flache Ebene sehen konnte. Weiter westlich lag ein Dorf, dessen schwache Lichter in die klare Winternacht blinzelten. Es war eine einladende Vorstellung – ein warmes Dach für die Zeit bis Sonnenaufgang.
Aber Sturm kannte die Bauern und wußte, welch beständigen Haß sie gegen den Orden hegten. Welches Dorf es auch war, wie freundlich die Lichter auch winkten, Eisvogel, Krone und Rose waren in den Häusern gewiß nicht willkommen.
Seufzend wendete der Junge seinen Blick gen Osten, wo im schwachen Licht des Sonnenaufgangs und im schwindenden weißen Schein von Solinari die zwei Türme einer großen Burg am Horizont aufragten. Es war zwar sicher nicht Schloß Feuerklinge, aber immerhin ein Schloß, und in dieser Gegend gewährte ein Schloß denen vom Eid und vom Maßstab Zuflucht.
Gemächlich lenkte Sturm sein Pferd nach Osten zu den Türmen, die wie Nebel vor ihm aus dem Boden zu ragen schienen. Es dämmerte bereits, als die Wehrgänge sichtbar wurden, und im schwachen Grau des ersten Sonnenlichts konnte er das verblaßte Wappen des Schlosses ausmachen, das auf einem gewaltigen Schild über dem Westtor prangte.
Das Wappen war verwittert, die Farbe leicht abgebröckelt, doch Sturm kannte seine eigene Familiengeschichte gut genug, um die Linien zu erkennen: Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund.
»Di Caela!« hauchte Sturm. »Die Heimat meiner Großmutter! Wir sind weit nach Süden abgekommen, meine liebe Luin. Aber irgendwie sind wir wohl zu Hause.«
Das Pferd schnaubte wieder angesichts der Aussicht auf einen Stall. Langsam verfiel es in Trab, dann in einen leichten Galopp, und mit verdoppelter Energie trug es Sturm Feuerklinge zu den verwitterten Toren seiner Ahnen.
Tief im Südlichen Finsterwald lag in einer Hängematte aus Weinranken und Blättern der Herr der Wildnis. Er schloß die Augen und setzte die Flöte ab. Das Licht um ihn her war grün und bernsteinfarben, als wäre der Wald aus dunklem, gewölbtem Glas.
Die Hängematte baumelte zwischen zwei alten Eichen über den Grundmauern einer noch älteren Ruine. Moosbedeckte Steine sprenkelten die Lichtung wie abgenutzte Zähne; es waren die Grundmauern eines kleinen Gebäudes, vielleicht einer kleinen Burg oder einem Kloster, das ohne Zweifel bereits im Zeitalter der Macht verlassen und dem Verfall anheim gegeben worden war.
Vertumnus’ Augen öffneten sich plötzlich. Über ihm in den Zweigen der alten Eiche hockten zwei Dryaden, die ihn erstaunt anstarrten.
»Du hättest ihn töten können!« zischte die kleinere der beiden, deren schwarzes Haar zu einer langen Schlinge geknotet war. Ihre Stimme klang voll und boshaft, wie der Wind, der in tote Blätter fährt.
Vertumnus antwortete nicht. Langsam faltete er die Hände über seiner Brust, und einen Augenblick sah er aus wie die Statue eines aufgebahrten Königs, still und königlich und undurchschaubar. Die Dryaden über ihm rutschten unruhig herum, und die Große krabbelte so geschickt wie eine Spinne im Netz am Rand der Hängematte entlang, bis sie neben dem grünen Mann ruhte und sich an ihn kuscheln konnte. Sie vergrub ihr Gesicht im grünen Dickicht seines Barts.
»Ich weiß, du willst ihn nicht töten«, flüsterte sie verführerisch. Ihre Stimme klang wie Flötentöne, und ihre Berührung war leicht wie das Flattern eines Flügels. »Und uns ist das egal. Aber hänsel ihn und verwirr ihn und schick ihn ganz konfus zurück zu seinen eidtreuen Brüdern. Tu es! Tu es jetzt!«
Vertumnus lachte, und der Wind pfiff durch sein Lachen.
»Ihr seid so blutrünstig wie Klesche, euer ganzer eichenbewohnender Haufen«, grollte er. »Und so dumm und stur wie Elstern.«
Blätter raschelten, als er die Dryaden fortschickte.
»Fort mit euch! Es ist Morgen und damit Zeit für mich zu schlafen.«
Er streckte sich, und die Dryade an seiner Seite krabbelte von der Hängematte hinunter auf die trockenen Blätter des Waldbodens. Sie zog einen Schmollmund und starrte den grünen Kerl an, der in den Zweigen über ihr eindöste und dessen Stimme voll fremdartigem Zauber war.
»Du bist keiner von uns«, klagte sie ihn an. »Noch nicht. Und keiner mehr von ihnen, auch wenn du dich vielleicht nach den Tagen von einst sehnst.«
Vertumnus lachte nur und drehte sich in der Hängematte um. Er schüttelte den Kopf, so daß Eicheln durch die verknüpften Schlingpflanzen regneten, und einen Moment lang schimmerte die Luft von tausend wirbelnden Flügelchen. Mit glitzernden, schwarzen Augen und warmem, aber unlesbarem Blick sah er belustigt die Dryade an.
»Wer bist du, kleine Evanthe, daß du sagen willst, wonach ich mich sehne und was ich mir wünsche?«
Irgendwo aus den dicken, ausladenden Lärchenzweigen flog eine große Eule mit einem Zweig mit knallblauen Beeren im Schnabel herunter. Sie setzte sich auf die Befestigung der Hängematte. Vertumnus zwinkerte der Eule zu und warf noch einen ironischen Blick auf die eingeschnappten Nymphen unter sich.
»Und jetzt«, gähnte er, »trollt euch in eine Eiche, damit meine Freundin und ich schlafen können, denn wir wollen die weisen Träume der Nachtschwärmer träumen.« Vertumnus zog eine Augenbraue hoch, drehte sich zu der Eule um und winkte den Nymphen noch einmal – diesmal ungeduldiger.
Die verärgerten Dryaden glitten mitten in den Wald, wobei sie sich noch zweimal nach diesem unbeeinflußbaren, grünen Mysterium ihrer Heimat umsahen.
»Du wirst nie einer von uns sein!« schrie die kleinere spöttisch. »Auch wenn du grün wie ein Schößling bist, wie ein Sommerlauch, wirst du nie wie wir sein, Herr der Wildnis!« Dann verschwanden die beiden im Dämmerlicht des Waldes.
Vertumnus lächelte und schloß die Augen.
»Diona«, flüsterte er, während er die Flöte an die Lippen setzte, »du hast keine Ahnung, wie wenig mir das ausmacht.«
Heiter blickte der grüne Mann in das dunkle Dach des Waldes hinein. Er setzte die Flöte an, nahm sie jedoch wieder runter, um zuerst ein paar beruhigende Worte an die Eule zu richten. Seine Stimme klang wie Pfeifen und leises Heulen und wie das Streichen des Windes durch die höchsten Äste, und dann machte der große Vogel es sich im flutenden Dickicht seiner Haare bequem. Vertumnus setzte die Flöte wieder an, woraufhin die anderen aus den Schatten kamen: Nachtigall und Falke, Elch und Eichhorn und Fledermaus und ein bernsteinäugiger Luchs.
Langsam begann der Herr der Wildnis mit der gemessenen, neunten Weise, die die Barden das Lied des Branchala nennen. Die überraschte Eule schlug mit den Flügeln, als in der Hängematte des Mannes neue Blätter sprossen. Obwohl Welt und Wetter um ihn her noch im zähen Griff des Winters hingen, war plötzlich Hochsommer.
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