Es war ein tonloses Wispern. Er schien keine Hoffnung mehr zu hegen, dass wir ihm glauben würden.
›Wer hat den Großteil der Arbeit für das Projekt Liebe geleistet? Nein, sag nichts. Lass mich zuerst die anderen befragen. Zephkiel? Als Phanuel dir die Detailpläne für die Liebe zur Genehmigung vorgelegt hat, wen hat er als Hauptverantwortlichen genannt?‹
Der flügellose Engel lächelte milde. ›Er sagte mir, es sei sein Projekt.‹
›Vielen Dank. Und was sagst du, Saraquael? Wer hat die Liebe gemacht?‹
›Ich. Ich und Carasel. Vielleicht er in höherem Maß als ich, aber wir haben es zusammen erarbeitet.‹
›Wusstet ihr, dass Phanuel es als sein Werk ausgab?‹
›… Ja.‹
›Und das habt ihr zugelassen?‹
›Er … er versprach, dass er uns als Nächstes ein gutes eigenes Projekt übertragen würde. Er versprach, wenn wir nichts verrieten, würden wir in Zukunft mehr große Projekte bekommen. Und er hat Wort gehalten. Wir haben Tod bekommen.‹
Ich wandte mich wieder an Phanuel. ›Also?‹
›Es ist wahr, dass ich behauptet habe, die Liebe sei mein Werk.‹
›Doch sie war Carasels. Und Saraquaels.‹
›Ja.‹
›Ihr letztes Projekt vor Tod ?‹
›Ja.‹
›Das ist alles.‹
Ich trat ans Fenster, sah auf die silbernen Türme und die Finsternis hinaus. Dann begann ich zu sprechen.
›Carasel war ein bemerkenswerter Gestalter. Wenn er einen Fehler hatte, dann war es der, dass er gar zu sehr in seiner Arbeit aufging.‹ Ich wandte mich ihnen wieder zu. Der Engel Saraquael zitterte und Lichter flackerten unter seiner Haut. ›Saraquael? Wen hat Carasel geliebt? Wer war sein Geliebter?‹
Er starrte zu Boden. Dann sah er auf, stolz und trotzig. Und er lächelte.
›Ich.‹
›Willst du mir davon erzählen?‹
›Nein.‹ Ein Achselzucken. ›Aber ich schätze, das muss ich wohl. Also schön.
Wir haben zusammen gearbeitet. Und als wir mit der Arbeit an der Liebe begannen, wurden wir Liebende. Es war seine Idee. Wir sind zu seiner Zelle gegangen, wann immer wir die Zeit finden konnten. Dort berührten wir einander, hielten uns, flüsterten uns Liebkosungen zu und Schwüre ewiger Treue. Sein Wohlergehen wurde mir wichtiger als meines. Ich existierte nur für ihn. Wenn ich allein war, murmelte ich seinen Namen vor mich hin und dachte an nichts als nur an ihn. Wenn ich mit ihm zusammen war …‹ Er schwieg einen Moment und sah zu Boden. ›Dann war alles andere gleichgültig.‹
Ich trat zu Saraquael, hob mit einer Hand sein Kinn und starrte in die grauen Augen. ›Warum hast du ihn dann getötet?‹
›Weil er mich nicht mehr lieben wollte. Als wir mit der Arbeit für Tod begannen, da … verlor er das Interesse. Er gehörte mir nicht mehr. Er gehörte dem Tod . Und wenn ich ihn nicht mehr haben konnte, dann war er seinem neuen Liebsten von Herzen gegönnt. Ich konnte seine Gegenwart nicht mehr ertragen. Ich konnte es nicht aushalten, in seiner Nähe zu sein und zu wissen, dass er nichts für mich empfand. Das war es, was am meisten wehgetan hat. Ich dachte … ich hoffte … wenn er fort wäre, könnte ich meine Gefühle wieder beherrschen. Und der Schmerz würde aufhören.
Also habe ich ihn getötet. Ich habe ihn erstochen und dann aus unserem Fenster in der Halle des Seins geworfen. Aber der Schmerz hat nicht aufgehört.‹ Es war fast ein Aufschrei.
Saraquael hob die Hand und befreite sein Kinn aus meinem Griff. ›Und jetzt?‹
Ich fühlte, wie meine wahre Erscheinung über mich kam, spürte, wie mein Zweck von mir Besitz ergriff. Ich war kein Individuum mehr. Ich war die Rache des Herrn.
Ich trat näher an Saraquael heran und umarmte ihn. Dann presste ich meine Lippen auf seine und zwang meine Zunge in seinen Mund. Wir küssten uns. Er schloss die Augen.
Ich spürte etwas in mir aufwallen, ein Brennen, ein Leuchten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Luzifer und Phanuel die Gesichter von meinem Licht abwandten. Ich spürte Zephkiels unverwandten Blick. Und mein Licht strahlte heller und heller, bis es hervorbrach. Aus den Augen, der Brust, den Fingern und den Lippen: ein weißes, alles versengendes Feuer.
Die weißen Flammen verzehrten Saraquael langsam und er klammerte sich an mich, während er brannte.
Kurz darauf war nichts von ihm übrig. Überhaupt nichts.
Ich spürte, wie die Flamme mich verließ. Ich wurde wieder ich selbst.
Phanuel schluchzte. Luzifer war bleich. Zephkiel saß in seinem Sessel und betrachtete mich gelassen.
Ich wandte mich an Phanuel und Luzifer. ›Ihr wart Zeuge der Rache des Herrn‹, sagte ich. ›Lasst es euch eine Warnung sein.‹
Phanuel nickte. ›Das war es. O, das war es. Ich … ich mache mich auf den Weg. Ich würde gern an meine Arbeit zurückkehren. Wenn du erlaubst?‹
›Geh.‹
Er stolperte zum Fenster und warf sich ins Licht, während er heftig mit den Flügeln schlug.
Luzifer trat zu der Stelle, wo Saraquael gestanden hatte. Er kniete sich hin und starrte auf den Silberboden hinab, so als suche er verzweifelt nach irgendwelchen Überresten des Engels, den ich vernichtet hatte, ein Ascheflöckchen, einen Knochen oder eine verkohlte Feder, aber es gab nichts zu finden. Dann blickte er zu mir auf.
›Das war nicht richtig‹, sagte er. ›Nicht gerecht.‹ Er weinte. Tränen rannen über sein Gesicht. Vielleicht war Saraquael der Erste, der liebte, doch Luzifer war der Erste, der Tränen vergoss. Das werde ich niemals vergessen.
Ich erwiderte seinen Blick unbewegt. ›Es war Gerechtigkeit. Er hatte einen anderen getötet. Darum musste er getötet werden. Du hast mich aufgefordert, meine Aufgabe zu erfüllen, und das habe ich getan.‹
›Aber … er hat geliebt . Er hätte Vergebung finden müssen. Und Hilfe. Er hätte nicht einfach so vernichtet werden dürfen. Das war unrecht .‹
›Es war Sein Wille.‹
Luzifer erhob sich. ›Dann ist es vielleicht Sein Wille, der unrecht ist. Vielleicht haben die Stimmen in der Finsternis doch Recht. Wie kann dies hier recht sein?‹
›Es ist recht. Es ist Sein Wille. Ich habe nur meinen Zweck erfüllt.‹
Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. ›Nein‹, sagte er entschieden. Er schüttelte den Kopf, nachdrücklich und langsam. ›Ich muss darüber nachdenken. Ich werde jetzt gehen.‹
Er ging zum Fenster, trat in den Himmel hinaus und war verschwunden.
Zephkiel und ich blieben allein in seiner Zelle zurück. Ich ging zu seinem Sessel hinüber. Er nickte mir zu. ›Du hast deine Aufgabe gut gemacht, Raguel. Solltest du jetzt nicht zu deiner Zelle zurückkehren und warten, bis du das nächste Mal gerufen wirst?‹«
Der Mann auf der Bank wandte sich mir zu und suchte meinen Blick. Bisher hatte ich den Eindruck gehabt, er sei sich meiner Anwesenheit kaum bewusst. Er hatte vor sich hin gestarrt und seine Geschichte in einer Art monotonem Flüstern erzählt. Jetzt war es plötzlich, als habe er mich entdeckt und spreche zu mir allein, nicht zur Nacht oder der Stadt der Engel. Und er sagte:
»Ich wusste, dass er Recht hatte. Aber ich hätte in dem Moment nicht gehen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Meine Erscheinung war noch nicht vollständig abgeklungen, mein Zweck noch nicht ganz erfüllt. Dann erkannte ich plötzlich die Wahrheit und alles ergab einen Sinn. Und genau wie Luzifer fiel ich auf die Knie, berührte den Silberboden mit der Stirn. ›Nein, Herr‹, sagte ich. ›Noch nicht.‹
Zephkiel erhob sich aus seinem Sessel. ›Steh auf. Es ist unpassend für einen Engel, sich einem anderen gegenüber so zu verhalten. Nicht recht. Steh auf!‹
Ich schüttelte den Kopf. ›Vater, Du bist kein Engel‹, flüsterte ich.
Zephkiel schwieg. Einen Augenblick war mein Herz von bösen Ahnungen erfüllt, ich fürchtete mich. ›Vater, mir wurde aufgegeben herauszufinden, wer für Carasels Tod verantwortlich ist. Und ich weiß, wer verantwortlich ist.‹
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