Sir Robert Peel wartete auf ihn. Dodger traute ihm noch immer nicht – er sah aus wie ein gelackter Typ, hatte aber so etwas wie Straßenschläue in den Augen. Der oberste Peeler musterte ihn und fragte: »Haben Sie jemals von einem gewissen Ausländer gehört, mein Freund?«
»Nein«, log Dodger nach dem Prinzip, dass man einem Polizisten, wenn es sich vermeiden ließ, nie die Wahrheit sagte.
Sir Robert musterte ihn mit ausdruckslosem Blick und wies darauf hin, dass Europas Polizeikräfte den Ausländer gern hinter Gittern sähen – oder noch besser am Galgen. »Er ist ein Mörder, ein Mann mit einem Verstand, scharf wie seine Messer. Nach allem, was wir in Erfahrung gebracht haben, forscht er nach dem Aufenthaltsort von Miss Simplicity und damit auch dem Ihren. Wir beide kennen die Hintergründe dieser Angelegenheit, und ich gehe davon aus, dass irgendwo irgendjemand sehr ungeduldig wird, wie die Ermordung des Schlauen Bob und seines … Mitarbeiters zeigt. Die Zeit scheint knapp zu werden, Mister Dodger. Sie sollten wissen, dass die britische Regierung nach Meinung vieler nichts falsch machen würde, wenn sie beschlösse, eine durchgebrannte Ehefrau zu ihrem Ehemann zurückzuschicken.« Er schniefte. »So abscheulich das für uns, die wir den Hintergrund der traurigen Geschichte kennen, auch sein mag. Die Uhr tickt, mein Freund. Den maßgebenden Persönlichkeiten gefällt es nicht, wenn man immer wieder ihre Pläne durchkreuzt, und an dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass ich mich selbst zu diesem Personenkreis zähle.«
Dodger hörte ein leises Trommeln, senkte den Blick und stellte fest, dass die Finger von Sir Roberts linker Hand auf einen Stapel vertraut wirkender Dokumente klopften.
Sir Robert sah ihn an und sagte: »Es ist meine Aufgabe, über gewisse Zusammenhänge Bescheid zu wissen, und so weiß ich, dass vor zwei Nächten in eine gewisse Botschaft eingebrochen wurde. Der unbekannte Dieb entwendete zahlreiche Unterlagen und diversen Schmuck, und kurze Zeit später hielt er es aus irgendeinem Grund für angebracht, den Stall anzuzünden. Wir suchen nach ihm, und es wird nicht unerheblicher Druck auf uns ausgeübt, damit wir ihn möglichst bald zur Strecke bringen.«
Dodgers Gesicht zeigte nur unschuldige Neugier, als Sir Robert fortfuhr: »Meine Leute haben vor Ort Ermittlungen in Hinsicht auf den Einbruch und die Brandstiftung angestellt. Dabei fanden sie Hinweise darauf, dass der Täter, bevor er das Feuer legte, etwas über dem Wappen in die Kutschentür ritzte, ein Wort, das offenbar Kasper lautet. Ich nehme an, Sie wissen nichts darüber.«
»Nun, Sir«, erwiderte Dodger munter, »Ihnen ist ja bekannt, dass wir am betreffenden Abend auf einer Dinnerparty waren. Anschließend bin ich mit Solomon heimgekehrt, der dies sicher gern bestätigen wird.« Und er dachte: Ob Solomon bei der Polizei für mich lügen würde? Sofort folgte ein zweiter Gedanke dem ersten: Solomon muss die Polizei überall in Europa belogen haben, mit Gottes Hilfe, und im Beisein eines Peelers wüsste er vielleicht nicht einmal, ob der Himmel blau ist.
Sir Robert lächelte, aber es war ein Lächeln ohne Wärme, und seine Finger trommelten etwas schneller. »Mister Dodger, ich bin mir völlig sicher, dass ich von Mister Cohen eine solche Aussage bekäme. Und da wir gerade dabei sind … Wissen Sie vielleicht etwas über den jüdischen Herrn, der uns heute Morgen einen Besuch abstattete und ein Päckchen mit Dokumenten für mich brachte? Nach Auskunft des diensthabenden Sergeants hat er es auf den Tresen gelegt und ist sofort wieder gegangen, ohne seinen Namen zu hinterlassen.« Das kühle Lächeln erschien erneut, und Sir Robert fuhr fort: »Natürlich sehen sich jüdische Herren in ihrer schwarzen Kleidung sehr ähnlich. Außenstehenden fällt es schwer, sie voneinander zu unterscheiden.«
»Wenn ich so darüber nachdenke …«, sagte Dodger. »Sie haben recht.« Dies gefiel ihm, und er glaubte, dass es auf eine verdrehte Art und Weise auch Sir Robert gefiel.
»Sie wissen also nichts«, sagte Sir Robert. »Sie wissen nichts, haben nichts gehört und waren natürlich auch nicht dort.« Er fügte hinzu: »Diese Dokumente sind bemerkenswert, äußerst bemerkenswert. Weshalb die Botschaft sie zurückhaben möchte. Natürlich weiß ich nicht, wo sie sich befinden. Solomon hat Sie bestimmt auf den Wert der Dinge hingewiesen, die Sie nach Hause gebracht haben, oder?«
»Oh, tut mir leid, Sir, Solomon hat mir nichts von Dokumenten erzählt, und ich habe sie nicht gesehen«, sagte Dodger und dachte: Für wen hält er mich, für ein Kleinkind?
»Ja-a-a«, sagte Sir Robert. »Übertreiben Sie es nicht mit der Schläue, Mister Dodger! Eines Tages könnten Sie sich selbst überlisten.«
»Ich bin auf der Hut, Sir, das verspreche ich.«
»Freut mich zu hören. Und nun können Sie gehen.« Als Dodger die Hand am Türknauf hatte, sagte Sir Robert: »Tun Sie so etwas nie wieder, junger Mann!«
»Ist überhaupt nicht möglich, Sir, hab’s ja gar nicht getan.« Den Kopf schüttelte er nur innerhalb seines Kopfs. Ja, sie warten immer, bis man glaubt, ihnen entkommen zu sein, und dann fallen sie über einen her. Ehrlich, ich könnte ihnen den einen oder anderen Kniff beibringen.
Er verließ Scotland Yard und rief: »Hab’s euch ja gesagt! Ihr Jungs könnt mir nichts anhängen!« Aber er dachte: Die Uhr tickt. Eine Regierungsuhr. Die Uhr des Ausländers. Und meine Uhr. Für Simplicity wär’s das Beste, wenn meine zuerst klingeln würde.
Was den Ausländer betraf … Hier zögerte er. Ein Mann, dessen einzige Beschreibung darauf hinauslief, dass er immer anders aussah? Wie sollte er einen solchen Mann ausfindig machen? Aber Dodger tröstete sich mit dem Gedanken: Wir sind dem Ziel sehr nahe, und er muss erst noch alles über mich herausfinden und feststellen, wo ich wohne. Das wird schwierig für ihn. Der Trost dieses Gedankens war allerdings nur von kurzer Dauer, denn ihm fiel ein, dass es sich bei dem Ausländer um einen berufsmäßigen Killer handelte, um einen gedungenen Mörder, der sich offenbar auf wichtige Leute spezialisiert hatte. Wie sollte es für jemanden wie ihn schwierig sein, einen rotznäsigen Tosher ausfindig zu machen und ins Jenseits zu befördern?
Dodger dachte darüber nach und sagte laut: »Ich bin Dodger! Es wird schwierig für ihn, und ob!«
15
In den Händen der Lady
Die Uhr tickte noch immer, und diesmal bedeutete ihr Ticken, dass es nicht mehr lange dauerte, bis es sieben wurde. Dodger überprüfte seine Vorbereitungen ein weiteres Mal und verließ die Kanalisation ein Stück entfernt, damit man ihn sah, wie er fröhlich zum Pub The Lion schlenderte.
Es überraschte ihn nicht, dort bereits Mister Bazalgette anzutreffen – er saß draußen auf einer Bank, gekleidet auf eine Art, die für eine Reise durch die Welt unter der Stadt geeignet erschien. Der junge Mann sah aus wie ein Kind, das auf den Beginn des Kasperletheaters wartete, und war mit verschiedenen Instrumenten und einem sehr großen Notizbuch ausgestattet. Darüber hinaus hatte er daran gedacht, eine eigene Laterne mitzubringen, obwohl Dodger bereits drei Laternen geliehen hatte, wofür es notwendig gewesen war, den einen oder anderen Gefallen einzufordern. Aber dazu waren Gefallen schließlich da.
Der junge Ingenieur trank ein Pint Ingwerbier und begann sofort ein Gespräch mit Dodger, bei dem es um das Wesen der Kanalisation ging, in Bezug auf die Menge des Wassers, die Dodger darin gesehen hatte, die Verbreitung von Ratten, die Gefahren des Aufenthalts und andere bedeutsame Einzelheiten für einen so begeisterten Gentleman wie Bazalgette.
»Freuen Sie sich darauf, Ihrer Lady zu begegnen, Mister Dodger?«, fragte er.
Dodger dachte: Ja, ihnen beiden. Aber er lächelte und sagte: »Ich habe sie nicht gesehen, kein einziges Mal. Aber manchmal, wissen Sie, wenn ich dort unten ganz allein bin, dann habe ich so ein Gefühl, als sei gerade jemand vorbeigegangen, und es gibt eine Veränderung in der Luft, und wenn ich dann den Blick senke, sehe ich die Ratten ganz schnell an mir vorbeilaufen, alle in dieselbe Richtung. Bei anderen Gelegenheiten sehe ich nichts weiter als ein altes Mauerstück, aber etwas scheint mir zu sagen, dass es sich vielleicht lohnt, hinter die zerbröckelnden Backsteine zu tasten. Also werfe ich einen Blick dorthin, und was finde ich? Einen Goldring mit zwei Diamanten! So ist es mir einmal passiert.« Er fügte hinzu: »Einige Tosher behaupten, die Lady gesehen zu haben, aber das soll passieren, wenn man stirbt, und ich habe noch nicht vor zu sterben. Allerdings, Sir, hätte ich nichts dagegen, sie jetzt zu sehen, wenn sie mir den Weg zu einem Tosheroon weist.«
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