Schwester Tahirah griff mit der Hand in sein Haar und riß ihn wieder hoch. »Ich glaube, Ihr erzählt mir nicht die Wahrheit. Er ist ein magisches Objekt. Ich will wissen, was er ist und was er tut.« Sie blickte ihm wütend in die Augen. »Ihr wißt ich werde nicht zögern, alles Erforderliche zu tun, um Eure Mitarbeit zu erzwingen. Bei Versagen akzeptiert Seine Exzellenz keine Ausflüchte.«
Zedd starrte zu ihr hoch und blinzelte die Tränen fort. »Es ist ein Ball, ein Kinderspielzeug, weiter nichts.«
Hämisch grinsend ließ sie ihn los. »Der große und mächtige Zauberer Zorander.« Sie schüttelte den Kopf. »Sich vorzustellen, daß wir Euch einst gefürchtet haben, dabei seid Ihr nur ein armer, alter Mann, den schon beim Schrei eines Kindes jeder Mut verläßt.« Sie seufzte. »Ich muß sagen, Euer Ruf übertrifft Euren wahren Mumm um ein Beträchtliches.«
Die Schwester nahm den Ball in die Hand, drehte ihn zwischen den Fingern und untersuchte ihn, ehe sie ihn mit einem verärgerten Schnauben wie einen wertlosen Gegenstand fortwarf. Zedd sah den Ball über den Boden springen, bis er schließlich zur Seitenwand des Zeltes hinüberrollte und vor der Bank, auf der Adie saß, liegen blieb. Er schaute hoch in ihre vollkommen weißen Augen und sah, daß sie ihn beobachtete. Zedd wandte sich wieder herum und wartete, während die Schwester Notizen in ihr Buch eintrug.
»Also schön«, meinte sie schließlich, »werfen wir einen Blick auf das, was sie im nächsten Zelt abgeladen haben.«
Zedd tat alles in seiner Macht stehende, um Zeit zu gewinnen, aber seine Möglichkeiten waren begrenzt. Diese Frauen kannten sich aus mit Magie, sie würden sich nicht so leicht von einer erlogenen Erklärung hinters Licht führen lassen. Zudem hatten sie ihm deutlich zu verstehen gegeben, welche Folgen ein solcher Täuschungsversuch hätte. Doch bislang hatten die Schwestern noch nichts Gefährliches aus den Kisten zutage gefördert und ihm vorgelegt, was sie im Grunde genommen nicht ebenso mühelos mit einem Bann hätten bewirken können. Der bislang gefährlichste Gegenstand war ein entworfener Bann im Innern einer kunstvoll verzierten Vase, der unter bestimmten Voraussetzungen, zum Beispiel, wenn die Vase mit Wasser gefüllt wurde, eine Temperaturumkehr bewirkte, die eine Stichflamme erzeugte. Es war weder ein Verrat an seiner Sache noch eine Gefährdung unschuldiger Menschenleben, als Zedd die Funktionsweise dieses Zaubers preisgab; jede Schwester, die etwas taugte, hätte den gleichen Effekt erzeugen können. Zum Glück war keines der bislang entdeckten Objekte für Jagang wirklich von Nutzen. Als er und Adie jetzt durch das dunkle Feldlager zum nächsten Zelt geschleift wurden, trugen ihn seine Beine kaum noch. Der Anblick des längst verlorengeglaubten Balls seiner Tochter hatte ihn seiner noch verbliebenen Kräfte größtenteils beraubt. So alt, so hinfällig hatte er sich noch nie gefühlt. Er fürchtete, sein Wille durchzuhalten war im Begriff zu erlahmen.
Zumal er nicht wußte, wie viel länger er noch bei Verstand bleiben würde. Die ganze Welt schien sich in ein Tollhaus verwandelt zu haben; manchmal erschien ihm alles wie ein Traum. Gewißheit und Zweifel schienen sich manchmal zu einem unentwirrbaren Knoten verschlungen zu haben.
Auf dem Weg durch das dunkle Feldlager, durch diese feuchte Hitze, glaubte er plötzlich Erscheinungen – meist irgendwelche Personen aus seiner Vergangenheit – zu sehen. Die Fackeln tauchten das schier uferlose Feldlager in ein flackerndes Licht, das allem einen Hauch des Unwirklichen verlieh. Die Kochfeuer, die sich bis zum Rand seines Blickfeldes erstreckten, glichen einem am Boden liegenden Sternenhimmel, so als wäre in der Welt das Unterste zuoberst gekehrt worden.
»Ihr wartet hier«, befahl die Schwester den Wachtposten.
Mit einem Ruck wurde Zedd nach hinten gerissen, als die Schwester gebückt im Zelt verschwand. Adie stieß einen Schrei aus, als der Mann, der sie abführte, ihr beim Versuch, sie anzuhalten, den Arm verdrehte.
Zedd konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Das ganze nächtliche Feldlager verschwamm vor seinen Augen. Und plötzlich bekam er es mit der Angst, denn er war sicher, den Verstand zu verlieren. Und sein Verstand war das letzte, was ihm noch geblieben war, sein wichtigstes Gut! Er wollte nicht als sabbernder, am Straßenrand hockender Bettelgreis enden.
An einem anderen Ort vernahm Nicholas ein lästiges Geräusch, irgendeine Art Störung, dort, wo sein Körper wartete.
Er ignorierte es und behielt statt dessen die Straßen im Blick, sah zu, wie die Gebäude vorüberzogen. Die Sonne war soeben untergegangen. Menschen zogen vorüber, Menschen auf der Hut, dazu Farben, Geräusche, hektische Betriebsamkeit.
Es war ein schäbiger Ort, mit eng aneinander gedrängten Gebäuden. Halte Ausschau! Die Gassen waren eng und finster. Fremde starrten. In den Straßen stank es. Keines der Gebäude besaß mehr als zwei Geschosse, dessen war er sicher. Die meisten nicht einmal die.
Wieder vernahm er das Geräusch, dort wo sein Körper wartete. Eindringlich forderte es seine Aufmerksamkeit.
Er ignorierte das beharrliche Pochen irgendwo weit weg, an einem anderen Ort, hielt Ausschau und versuchte zu erkennen, in welche Richtung sie sich bewegten. Was war das? Er glaubte es zu wissen, war sich aber nicht absolut sicher. Sieh hin. Er wollte sich Gewissheit verschaffen. Er wollte sie beobachten.
Wie er das Beobachten genoß.
Dann schon wieder das Geräusch, dieses unangenehme, fordernde, pochende Geräusch.
Plötzlich spürte Nicholas seinen Körper um sich herum, als er schlagartig an den Ort zurückkehrte, wo dieser, die Beine auf dem Holzfußboden übereinander geschlagen, seiner harrte. Er schlug die Augen auf, blinzelte, versuchte sich in dem düsteren Raum zu orientieren. Dann erhob er sich und stand, an das seltsame Gefühl, sich wieder in seinem eigenen Körper zu befinden, noch nicht wieder gewöhnt, einen Moment unsicher auf den Beinen. In letzter Zeit war er so oft unterwegs gewesen, tags und nachts, daß er es nicht mehr gewohnt war, diese Dinge aus eigener Kraft zu tun. So oft hatte er sich an einem anderen Ort, in einem fremden Körper befunden, daß es ihm nun schwerfiel, sich auf seinen eigenen einzustellen.
Jemand hämmerte gegen die Tür und forderte ihn lautstark auf zu öffnen. Der ungebetene Besucher, diese dreiste Störung, erzürnte Nicholas über alle Maßen.
Es war ihm lästig, sich aus eigener Kraft bewegen, seine eigenen Muskeln benutzen zu müssen, sich selbst atmen zu spüren, zu sehen, zu hören, zu riechen und mit seinen eigenen Sinnen zu empfinden.
Die Tür war mit einem schweren Riegel versperrt, um zu verhindern, daß ungebetene Besucher hereinkamen, während er an anderen Orten weilte.
Wieder hämmerte jemand von der anderen Seite gegen die Tür, blaffte seinen Namen und verlangte, eingelassen zu werden. Nicholas hob den schweren Riegel an, wuchtete ihn zur Seite und stieß die massive Tür auf.
Im Flur unmittelbar vor ihm stand ein junger Soldat, ein ganz gewöhnlicher, verwahrloster, einfacher Soldat. Ein Niemand.
Nicholas starrte den niederen Mann, der es gewagt hatte, die Treppe zu diesem Raum, zu dem der Zutritt, wie jedermann wußte, verboten war, hinaufzusteigen und an die verbotene Tür zu klopfen, mit einer Mischung aus Wut und Verblüffung an. Wo steckte bloß Najaris platte, krumme Nase, wenn man sie brauchte? Wurde diese Tür denn nicht bewacht?
Aus dem Handrücken der blutbesudelten Faust, mit der der Soldat gegen die Tür gehämmert hatte, ragte ein zersplitterter Knochen.
Nicholas reckte den Hals, spähte an dem Soldaten vorbei in den matt beleuchteten Flur und sah die Leichen einiger Wachtposten in einer Lache ihres eigenen Blutes liegen.
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