Die Vorderseite des Ladens war voller Hocker für die Kunden. Die Schuhe in den Fächern waren alle unterschiedlich, dann gab es Testschuhe, mit denen man die Größe feststellen konnte, jemand kam in den Laden, probierte den Testschuh an und suchte sich ein Modell aus. Dann würde der Schuhmaeher - oder vermutlich seine Angestellten - ein Paar in der gewünschten Mode herstellen, das man später abholen konnte. Die große Glasscheibe an der Vorderseite verkündete mit großen weißen aufgemalten Buchstaben, dass der Schuhmacher Naorman Mashinta hieß, und neben dem Namen war eine kleine »Drei« gemalt. Das war die dritte Generation von Mashintas, die den Laden betrieb. Keinesfalls ungewöhnlich für Stadtleute. Tatsächlich fand der Teil von Egwene, der noch immer von den Zwei Flüssen dominiert wurde, es seltsam, dass jemand in Betracht ziehen konnte, das Handwerk der Eltern nicht auszuüben, solange es sich nicht um das dritte oder vierte Kind handelte.
»Nachdem wir jetzt das Offensichtliche abgehandelt haben«, sagte Egwene, »was gibt es denn Neues?«
»Nun«, sagte Siuan, lehnte sich gegen das Fenster und schaute auf die auf unheimliche Weise leere Straße in Tar Valon hinaus, »kürzlich ist ein alter Bekannter von Euch im Lager aufgetaucht.«
»Wirklich?«, fragte Egwene gedankenverloren. »Wer denn?«
» Gawyn Trakand.«
Egwene zuckte zusammen. Das war unmöglich! Gawyn hatte sich während der Rebellion auf Elaidas Seite geschlagen. Er würde nicht die Fronten gewechselt haben. War er gefangen genommen worden? Aber so hatte Siuan es nicht ausgedrückt.
Einen kurzen Augenblick lang verwandelte sich Egwene in ein bebendes Mädchen im Bann seiner geflüsterten Versprechungen. Aber sie schaffte es, diesen Teil von ihr in der Gestalt der Amyrlin einzusperren, und zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Mit betont nüchternem Tonfall fragte sie: »Gawyn? Wie seltsam. Ich hätte nicht erwartet, ihn dort zu finden.«
Siuan lächelte. »Gut reagiert«, meinte sie. »Aber Ihr habt zu lange geschwiegen, und als Ihr nach ihm gefragt habt, seid Ihr zu desinteressiert gewesen. Das machte Euch leicht zu durchschauen.«
»Das Licht soll Euch blenden«, sagte Egwene. »Ist das noch eine Prüfung? Ist er wirklich da?«
»Ich halte mich an die Eide, vielen Dank«, sagte Siuan beleidigt. Egwene gehörte zu den wenigen, die wussten, dass Siuan als Resultat ihrer Dämpfung und der darauf folgenden Heilung von den Drei Eiden entbunden worden war. Aber genau wie Egwene hatte sie sich entschlossen, nie zu lügen.
»Wie dem auch sei«, sagte Egwene. »Ich bin der Ansicht, dass die Zeit, mich auf die Probe zu stellen, vorbei ist.«
»feder, der Euch begegnet, Mutter, wird Euch auf die Probe stellen«, sagte Siuan. »Ihr müsst auf Überraschungen vorbereitet sein; in jedem Augenblick könnte Euch jemand eine entgegenschleudern, nur um zu sehen, wie Ihr reagiert.«
»Danke«, sagte Egwene kalt. »Aber diese Ermahnung ist wirklich unnötig.«
»Tatsächlich? Klingt irgendwie wie etwas, das Elaida sagen würde.«
»Das ist ungerecht!«
»Beweist es«, sagte Siuan süffisant.
Egwene zwang sich zur Ruhe. Siuan hatte recht. Es war besser, einen Rat anzunehmen - vor allem, wenn es ein guter Rat war -, als sich zu beschweren. »Natürlich habt Ihr recht«, sagte Egwene und strich das Kleid über den Knien glatt, während sie gleichzeitig den Unmut aus ihrer Miene strich. »Erzählt mir mehr über Gawyns Ankunft.«
»Viel mehr weiß ich auch nicht«, gestand Siuan ein. »Ich hätte es wirklich schon gestern erwähnen sollen, aber unser Treffen wurde ja abgekürzt.« Sie trafen sich nun viel öfter - in jeder Nacht von Egwenes Kerkerhaft -, aber am Vortag hatte jemand Siuan geweckt, bevor sie mit ihrem Gespräch fertig gewesen war. Eine Blase des Bösen im Rebellenlager, bei der Zelte zum Leben erwacht waren und versucht hatten, Menschen zu erdrosseln. Es hatte drei Todesfälle gegeben, darunter eine Aes Sedai.
»Aber Gawyn hat auch nicht viel gesagt, das ich mitbekommen hätte«, fuhr Siuan fort. »Ich glaube, er ist da, weil er von Eurer Gefangennahme gehört hat. Er hatte einen spektakulären Auftritt, aber jetzt bleibt er in Brynes Kommandoposten und besucht regelmäßig die Aes Sedai. Irgendetwas beschäftigt ihn; er spricht ständig mit Romanda und Lelaine.«
»Das ist beunruhigend.«
»Nun, sie sind es, die im Lager offensichtlich etwas zu sagen haben. Solange Sheriam und die anderen es nicht schaffen, ihnen einen Teil der Autorität zu entringen. Ohne Euch läuft es nicht gut; das Lager braucht Führung. Tatsächlich verzehren wir uns danach, so wie ein verhungernder Fischer sich nach einem Fang verzehrt. Ich schätze, Aes Sedai sind Menschen, die Ordnung brauchen. Ich …«
Sie verstummte. Vermutlich hatte sie Egwene schon wieder drängen wollen, eine Rettung zu akzeptieren. Sie sah Egwene an, dann sprach sie weiter. »Nun, es wird uns guttun, wenn Ihr zurückkehrt, Mutter, fe länger Ihr fortbleibt, desto unversöhnlicher werden die Fraktionen. Man kann die Linien, die durch die Mitte des Lagers gehen, fast schon sehen. Romanda auf der einen Seite, Lelaine auf der anderen, und ein stetig schrumpfender Teil, der sich nicht für eine Seite entscheiden will.«
»Wir können uns keine weitere Spaltung leisten«, sagte Egwene. »Gerade wir nicht; wir müssen uns stärker als Elaida erweisen.«
»Wenigstens verlaufen unsere Gräben nicht an den Grenzen der Ajahs«, meinte Siuan defensiv.
»Fraktion und Spaltungen«, sagte Egwene und stand auf. »Zank und Rangeleien. Wir sind besser als das, Siuan. Sag dem Saal, dass ich mich mit ihm treffen will. Vielleicht in zwei Tagen. Wir beide sollten uns morgen wieder treffen.«
Siuan nickte zögernd. »Also gut.«
Egwene sah sie an. »Haltet Ihr das für unklug?«
»Nein«, erwiderte Siuan. »Ich mache mir Sorgen darüber, wie sehr Ihr Euch antreibt. Die Amyrlin muss lernen, ihre Kräfte einzuteilen; einige in Eurer Stellung sind nicht deshalb gescheitert, weil ihnen die Fähigkeit zur Größe fehlte, sondern weil sie sich verzettelt haben, weil sie gerannt sind, als sie hätten gehen sollen.«
Egwene verzichtete auf den Hinweis, dass Siuan selbst einen großen Teil ihrer Herrschaft als Amyrlin in halsbrecherischem Tempo verbracht hatte. In der Tat hätte man durchaus argumentieren können, dass sich Siuan verzettelt hatte und darum gestürzt war. Wer könnte besser über die Gefahren solcher Aktivitäten sprechen als jemand, der von ihnen so sehr verbrannt worden war?
»Ich weiß diesen Rat zu schätzen, Tochter«, sagte Egwene. »Aber es gibt hier wirklich wenig, worüber man sich Sorgen machen sollte. Meine Tage verbringe ich in Einsamkeit, und die gelegentlichen Prügel sorgen für Würze. Diese nächtlichen Treffen helfen mir, zu überleben.« Sie erschauderte und lenkte den Blick von Siuan durch das Fenster auf die schmutzige, verlassene Straße.
»Ist es sehr schwer zu ertragen?«, fragte Siuan leise.
»Die Zelle ist schmal genug, dass ich beide Seiten gleichzeitig berühren kann«, sagte Egwene. »Sie ist auch nicht besonders lang. Wenn ich mich hinlege, muss ich die Beine anziehen, damit das geht. Ich kann nicht stehen, da die Decke so niedrig ist, dass ich mich nicht aufrichten kann, und ich kann nicht ohne Schmerzen sitzen, da man mich nicht länger zwischen den Prügelstrafen Heilt. Das Stroh ist alt und juckt. Die Tür ist dick, und zwischen den Spalten kann nicht viel Licht durchsickern. Ich wusste gar nicht, dass die Burg überhaupt solche Zellen hat.« Sie sah Siuan wieder an. »Sobald ich vollständig als Amyrlin anerkannt bin, wird man diesen Raum und alle wie ihn entfernen, man wird die Türen herausreißen und die Zellen selbst mit Ziegeln und Mörtel ausfüllen.«
Siuan nickte. »Wir werden dafür sorgen.«
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