»Es war sehr klug von Euch, damit zu uns zu kommen, Kind«, sagte Sorilea. »Ihr dürft Euch zurückziehen.«
Nynaeves Augen weiteten sich vor Wut. »Aber …«
»Sorilea«, sagte Cadsuane mit ruhiger Stimme und unterbrach Nynaeve. »Dieses Kind könnte uns nützlich sein. Sie steht dem Jungen noch immer nahe; er vertraute ihr genug, um sie heute Abend mitzunehmen.«
Sorilea sah die anderen Weisen Frauen an. Bair und Melaine nickten beide. Amys erschien nachdenklich, erhob aber keine Einwände.
»Vielleicht«, sagte Sorilea. »Aber kann sie gehorsam sein?«
»Nun?«, wandte sich Cadsuane an Nynaeve. Alle schienen Min zu ignorieren. »Könnt Ihr?«
Nynaeves Augen waren noch immer vor Wut weit aufgerissen. Beim Licht, dachte Min. Nynaeve? Sie soll Cadsuane und den anderen gehorchen? Gleich wird sie explodieren!
Nynaeve zog an ihrem Zopf; sie griff so fest zu, dass sich ihre Knöchel weiß verfärbten. »Ja, Cadsuane Sedai«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Das kann ich.«
Die Weisen Frauen schienen überrascht, sie diese Worte sagen zu hören, aber Cadsuane nickte bloß, als hätte sie diese Erwiderung erwartet. Wer hätte damit gerechnet, dass Nynaeve so … nun, vernünftig sein konnte?
»Setzt Euch, Kind«, sagte Cadsuane und machte eine einladende Geste. »Wollen wir doch einmal sehen, ob Ihr tatsächlich Befehle befolgen könnt. Ihr könntet die Einzige aus der derzeitigen Ernte sein, aus der sich vielleicht noch etwas machen lässt.« Das ließ Merise erröten.
»Nein, Cadsuane«, meinte Amys. »Nicht die Einzige. Egwene hat viel Ehre.«
Die anderen Weisen Frauen nickten.
»Wie sieht der Plan aus?«, fragte Nynaeve.
»Eure Aufgabe sieht Folgendes vor …«, fing Cadsuane an.
»Wartet«, sagte Nynaeve. »Meine Aufgabe? Ich will alles hören.«
»Ihr werdet alles hören, wenn wir bereit sind, es Euch zu sagen«, sagte Cadsuane knapp. »Und lasst mich meine Entscheidung nicht bereuen, mich für Euch einzusetzen.«
Nynaeve presste mühsam und mit loderndem Blick die Lippen aufeinander. Aber sie fauchte sie nicht an.
»Eure Aufgabe besteht darin«, fuhr Cadsuane fort, »Perrin Aybara zu finden.«
»Was soll das bringen?«, fragte Nynaeve und fügte dann hinzu: »Cadsuane Sedai.«
»Das ist unsere Sache«, erwiderte Cadsuane. »Er war noch vor kurzem im Süden unterwegs, aber wir können nicht genau entdecken, wo. Der junge al’Thor weiß vielleicht, wo er steckt. Findet es für uns heraus, und vielleicht erkläre ich Euch den Grund.«
Nynaeve nickte zögernd, und die anderen wandten sich der Diskussion zu, wie viel Baalsfeuer das Muster vertragen konnte, bevor es sich völlig auflöste. Nynaeve hörte schweigend zu und versuchte offensichtlich, mehr über Cadsuanes Plan herauszufinden, obwohl es nicht viele Anhaltspunkte gab.
Min hörte nur mit halbem Ohr zu. Wie auch immer dieser Plan aussah, jemand würde auf Rand aufpassen müssen. Seine heutige Tat würde ihn innerlich zerstören, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Es gab genügend andere, die sich darüber sorgten, was er in der Letzten Schlacht tun würde. Es war ihre Aufgabe, ihn lebendig und bei geistiger Gesundheit, mit intakter Seele, zu dieser Letzten Schlacht zu bringen.
Irgendwie.
38
Neuigkeiten in Tel’aran’rhiod
Egwene, nun nehmt doch Vernunft an«, sagte Siuan. Der Ter’angreal-Ring, mit dem sie das Tel’aran’rhiod betreten hatte, ließ sie gelegentlich etwas durchsichtig erscheinen. »Wem nutzt es denn, wenn Ihr in dieser Zelle verrottet? Elaida wird dafür sorgen, dass Ihr dort niemals herauskommt, nicht nach dem, was Ihr bei diesem Abendessen über sie gesagt habt.« Siuan schüttelte den Kopf. »Mutter, manchmal muss man sich einfach der Wahrheit stellen. Irgendwann lässt sich ein Netz nicht mehr flicken, dann muss man es wegwerfen und ein neues weben.«
Egwene saß auf einem dreibeinigen Hocker in der Ecke des Zimmers, dem Verkaufsraum eines Schuhmachers. Sie hatte den Ort zufällig ausgewählt, nur für alle Fälle, und auf eine Zusammenkunft in der Weißen Burg verzichtet. Die Verlorenen wussten, dass Egwene und die anderen sich in der Welt der Träume bewegten.
Bei Siuan konnte Egwene entspannter sein und mehr von ihrem eigentlichen Ich enthüllen. Beiden war klar, dass Egwene jetzt die Amyrlin war und Siuan den geringeren Status hatte, aber sie teilten auch einen Bund. Eine Kameradschaft, die der Stellung zu verdanken war, die sie beide innegehabt hatten. Seltsamerweise hatte sich dieser Bund in etwas Ähnliches wie eine Freundschaft verwandelt.
Aber in diesem Augenblick stand Egwene kurz davor, ihre Freundin zu erwürgen. »Wir haben das doch besprochen«, sagte sie energisch. »Ich kann nicht flüchten. Jeder Tag, den ich eingesperrt verbringe und nicht geflohen bin, ist ein weiterer Schlag gegen Elaidas Herrschaft. Wenn ich vor ihrem Prozess verschwinde, untergräbt das alles, wofür wir gearbeitet haben!«
»Der Prozess wird eine Farce sein, Mutter«, sagte Siuan. »Und selbst wenn nicht, wird man nur eine leichte Strafe verhängen. So wie Ihr es mir berichtet habt, hat sie Euch bei ihren Schlägen keine Knochen gebrochen - sie hat Euch nicht einmal eine Platzwunde zugefügt.«
Das stimmte allerdings. Egwene hatte durch zerbrochenes Glas geblutet, nicht durch Elaidas Prügel.
»Selbst ein formeller Tadel vom Saal wird ihre Autorität untergraben«, beharrte Egwene. »Mein Widerstand, meine Weigerung, mich durch meine Inhaftierung brechen zu lassen, bedeutet etwas. Die Sitzenden selbst besuchen mich! Sollte ich flüchten, würde es so aussehen, als hätte ich Elaida nachgegeben.«
»Hat sie Euch nicht zur Schattenfreundin erklärt?«, fragte Siuan spitz.
Egwene zögerte. Ja, das hatte sie getan. Aber sie hatte keinen Beweis dafür.
Das Burggesetz war verzwickt, und die angemessenen Bestrafungen und Interpretationen zu finden konnte kompliziert sein. Die Drei Eide hätten Elaida davon abgehalten, die Eine Macht als Waffe zu benutzen, also musste sie geglaubt haben, das Gesetz nicht zu missachten. Entweder war sie weitergegangen als beabsichtigt, oder sie betrachtete Egwene als Schattenfreundin. Sie konnte beide Positionen zu ihrer Verteidigung anführen; die Letztere würde sie vom größten Teil der Schuld freisprechen, aber die Erstere würde viel einfacher zu beweisen sein.
»Sie könnte es schaffen, Euch verurteilen zu lassen«, meinte Siuan, die anscheinend in die gleiche Richtung dachte. »Man würde Euch hinrichten lassen. Was dann?«
»Das wird ihr nicht gelingen. Sie hat keinen Beweis, dass ich eine Schattenfreundin bin, also wird das der Saal niemals zulassen.«
»Und wenn Ihr Euch irrt?«
Egwene zögerte. »Also gut. Sollte der Saal entscheiden, mich hinzurichten, lasse ich mich von Euch hier herausholen. Aber vorher nicht, Siuan. Erst dann.«
Siuan schnaubte. »Möglicherweise bleibt Euch dann dazu keine Gelegenheit, Mutter. Falls Elaida die anderen einschüchtert, wird sie schnell handeln. Die Strafaktionen dieser Frau können so schnell wie ein Sturmwind sein und einen völlig unerwartet treffen. Das weiß ich zur Genüge.«
»Sollte das geschehen«, sagte Egwene spitz, »wäre mein Tod ein Sieg. Dann wäre Elaida diejenige, die aufgegeben hat, und nicht ich.«
Siuan schüttelte den Kopf und murmelte: »So unnachgiebig wie ein Ankerplatz.«
»Diese Diskussion ist beendet, Siuan«, sagte Egwene streng.
Siuan seufzte, sagte aber nichts mehr dazu. Sie schien zu viel nervöse Energie zu haben, um sich hinsetzen zu können, und hatte den Hocker auf der anderen Seite des Raumes ignoriert; sie stand rechts neben Egwene am Ladenfenster.
Das Ladenlokal des Schuhmachers wies Anzeichen von viel Betrieb auf. Eine Theke teilte den Raum in zwei Hälften, die Wand dahinter war mit Dutzenden Nischen von Schuhen in verschiedenen Größen versehen. Manchmal waren sie mit robusten Arbeitsschuhen aus Leder oder Segeltuch vollgestopft, deren Schnürriemen herunterhingen oder deren Schnallen im Phantomlicht des Tel’aran’rhiod funkelten, jedes Mal, wenn Egwene wieder zur Wand sah, hatten sich die Schuhe verändert. Einige waren verschwunden, andere waren aufgetaucht. Sie würden in der realen Welt nicht lange in ihren Nischen ruhen, denn sie ließen in der Welt der Träume nur vage Abdrücke zurück.
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