Es hat nicht funktioniert, flüsterte Lews Therin. Wir benutzten Saidin, aber wir haben den Dunklen König damit berührt. Es war die einzige Möglichkeit! Etwas muss ihn berühren, etwas muss die Lücke schließen, aber er konnte es verderben. Das Siegel war schwach!
Ja, aber was machen wir anders?, dachte Rand.
Schweigen. Einen Moment lang saß er da, dann rutschte er von Tai'daishar und ließ ihn von dem nervösen Stallburschen fortführen. Die restlichen Töchter kamen durch das Tor, und Bashere und Narishma bildeten den Abschluss. Rand wartete nicht auf sie, obwohl er Deira Bashere, Davram Basheres Frau, vor dem Reisegelände stehen sah. Die große, statueske Frau hatte dunkles Haar mit grauen Strähnen an den Schläfen. Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. Was würde sie tun, wenn Bashere in seinen Diensten starb? Würde sie ihm weiterhin folgen, oder würde sie die Truppen zurück nach Saldaea führen? Sie war so willensstark wie ihr Ehemann. Vielleicht sogar willensstärker.
Rand passierte sie mit einem Nicken und einem Lächeln und ging durch das abendliche Lager auf das Haus zu. Also wusste Lews Therin nicht, wie man das Gefängnis des Dunklen Königs versiegelte. Was nutzte ihm die Stimme dann? Sollte er doch zu Asche verbrennen, aber er war eine von Rands wenigen Hoffnungen gewesen!
Die meisten Leute waren klug genug, um ihm aus dem Weg zu gehen, als sie ihn über den Rasen stapfen sahen. Er konnte sich noch an die Zeit erinnern, als ihn solche Stimmungen nicht überfallen hatten, als er noch ein einfacher Schafhirte gewesen war. Rand der Wiedergeborene Drache war ein völlig anderer Mann. Ein Mann mit einer großen Verantwortung und Pflichten. Das musste er sein.
Pflicht. Pflicht war wie ein Berg. Nun, er fühlte sich, als säße er zwischen einem guten Dutzend verschiedener Berge, die alle auf ihn zurückten, um ihn zu zermalmen. Bei all diesen Kräften schienen seine Gefühle durch den ganzen Druck zu brodeln. War es da ein Wunder, wenn sie hervorbrachen?
Er schüttelte den Kopf. Im Osten lagen die Verschleierten Berge. Die Sonne stand im Begriff unterzugehen, und die Berge lagen in rotes Licht getaucht. Jenseits davon im Süden lagen Emondsfelde und die Zwei Flüsse, seltsam nah. Eine Heimat, die er nie wiedersehen würde, denn ein Besuch würde nur seine Feinde darauf aufmerksam machen, wie viel ihm daran lag. Er hatte schwer daran gearbeitet, sie glauben zu lassen, dass er ein Mann ohne jede Bindungen war. Manchmal fürchtete er, dass seine List zur Realität geworden war.
Berge. Berge wie Pflicht. In diesem Fall die Pflicht der Einsamkeit, denn irgendwo südlich von diesen viel zu nahen Bergen war sein Vater Tam. Er hatte ihn schon solange nicht mehr gesehen. Tam war sein Vater. Das hatte er entschieden. Seinen Geburtsvater hatte er nie kennengelernt, den Aiel Clanhäuptling Janduin, und auch wenn er offensichtlich ein Mann von Ehre gewesen war, verspürte er keinen Wunsch, ihn Vater zu nennen.
Manchmal sehnte er sich nach Tams Stimme, seiner Weisheit. Das waren die Augenblicke, in denen er wusste, dass er am härtesten sein musste, denn nur ein Augenblick der Schwäche, ein Augenblick, in dem er hilfesuchend zu seinem Vater rannte, würde fast alles vernichten, wofür er gearbeitet hatte. Und es würde vermutlich auch das Ende von Tams Leben bedeuten.
Rand betrat das Herrenhaus durch das verbrannte Loch an der Vorderseite, schob die dicke Plane zur Seite, die als neuer Eingang diente, wandte den Verschleierten Bergen den Rücken zu. Er war allein. Er musste allein sein. Sich auf jemanden zu verlassen würde das Risiko bergen, am Shayol Ghul schwach zu sein. In der Letzten Schlacht würde er sich auf niemanden stützen können als auf sich selbst.
Pflicht. Wie viele Berge musste ein Mann tragen?
Im Inneren des Hauses roch es noch immer nach Rauch. Lord Tellaen hatte sich zögernd, wenn auch beharrlich über das Feuer beschwert, bis er eine Entschädigung für den Mann angeordnet hatte, auch wenn er nicht für die Blase des Bösen verantwortlich gewesen war. Oder doch? Ein Ta'veren zu sein hatte viele seltsame Auswirkungen, ob man Leute dazu brachte, Dinge zu sagen, die sie normalerweise nicht gesagt hätten, oder jene die Treue schwören ließ, die eben noch geschwankt hatten. Er war ein Brennpunkt für Ärger, Blasen des Bösen eingeschlossen. Er hatte sich nicht ausgesucht, dieser Brennpunkt zu sein, aber er hatte sich entschieden, in dem Herrenhaus zu bleiben.
So oder so, Tellaen war entschädigt worden. Ein Trinkgeld verglichen mit den Summen, die Rand ausgab, um seine Armeen zu finanzieren, und selbst das war wenig verglichen mit den Geldmitteln, die er dafür eingesetzt hatte, um Nahrungsmittel nach Arad Doman und andere Krisengebiete zu bringen. Seine Verwalter sorgten sich, dass er seine Güter in Illian, Tear und Cairhien bald in den Bankrott treiben würde, wenn er sein Geld weiter in diesem Tempo ausgab. Er hatte ihnen nicht gesagt, dass ihm das völlig egal war.
Er würde die Welt zur Letzten Schlacht führen.
Und das wird dein einziges Vermächtnis sein?, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Das war nicht Lews Therin, sondern sein eigener Gedanke, eine leise Stimme, der Teil von ihm, der ihn veranlasst hatte, in Andor und Cairhien Schulen zu gründen. Du willst leben, nachdem du gestorben bist? Wirst du all jene, die dir gefolgt sind, Krieg, Hunger und Chaos überlassen? Wirst du in der Zerstörung weiterleben?
Rand schüttelte den Kopf. Er konnte nicht alles richten! Er war nur ein Mann. Über die Letzte Schlacht hinauszudenken war albern. Er konnte sich keine Sorgen über die nachfolgende Welt machen. Das würde ihn nur ablenken.
Und was ist das Ziel?, schien die Stimme zu sagen. Zu überleben oder Erfolg haben? Schaffst du die Voraussetzungen für die nächste Zerstörung der Welt oder für das nächste Zeitalter der Legenden?
Darauf hatte er keine Antwort. Lews Therin rührte sich und plapperte unverständlich vor sich hin. Rand stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Beim Licht, er war müde.
Was hatte der Verrückte noch einmal gesagt? Bei der Versiegelung des Stollens in das Gefängnis des Dunklen Königs hatte er Saidin benutzt. Denn so viele der Aes Sedai jener Zeit hatten sich gegen ihn gewendet, und ihm waren nur die Hundert Gefährten geblieben - die mächtigsten männlichen Aes Sedai seiner Tage. Keine Frauen. Die weiblichen Aes Sedai hatten seinen Plan für zu riskant gehalten.
Unbehaglicherweise hatte Rand das Gefühl, sich beinahe an diese Geschehnisse erinnern zu können - nicht an die tatsächlichen Vorkommnisse, sondern an die Wut, die Verzweiflung und die Entscheidung. Hatte der Fehler also darin bestanden, nicht auch die weibliche Hälfte der Macht zusätzlich zur männlichen zu benutzen? Hatte das den Gegenschlag des Dunklen Königs ermöglicht, Saidin zu verderben und Lews Therin und die übrig gebliebenen Männer der Hundert Gefährten in den Wahnsinn zu treiben?
Konnte es so einfach sein? Wie viele Aes Sedai würde er brauchen? Würde er überhaupt welche von ihnen brauchen? Genug Weise Frauen konnten die Macht lenken. Sicherlich musste mehr dahinterstecken.
Da gab es dieses Kinderspiel, Schlangen und Füchse. Es hieß, dass man es nur gewinnen konnte, wenn man die Regeln brach. Also was war mit seinem anderen Plan? Konnte er die Regeln brechen, indem er den Dunklen König tötete? Konnte selbst er, der Wiedergeborene Drache, es überhaupt wagen, so etwas in Betracht zu ziehen?
Er überquerte den ächzenden Holzfußboden des Korridors und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Min lag auf dem Bett, einige Kissen im Rücken, und trug ihre bestickten grünen Hosen und ein Leinenhemd. Im Licht der Lampe blätterte sie in einem Buch. Eine ältere Dienerin huschte geschäftig umher und sammelte das Geschirr von Mins Abendmahlzeit ein. Rand schälte sich aus dem Mantel und seufzte.
Читать дальше