»Aber es ist das einzig echte Exemplar! Das Original!«
Lächelnd nickte er. »Es ist das Original einer weiteren Notsicherung. Habt Ihr die ersten, einleitenden Worte darin etwa auch überlesen? Auch dort steht zu Beginn eine wichtige Warnung.«
»Was denn für eine Warnung?«
»Die Mahnung, eine Konfessorin einzusetzen.«
»Aber wir hatten doch das Original! Wir brauchten keine Konfessorin!«
»Die Warnung bestand nicht darin, dass Ihr eine Konfessorin hinzuziehen müsst, sondern dass sie überhaupt erwähnt wird.«
Zedd, der sich nicht länger beherrschen konnte, hob eine Hand. »Worauf in aller Welt willst du eigentlich hinaus, Richard?«
Richard lächelte seinen Großvater an. »Wer war die erste Konfessorin?«
»Magda Searus.«
Richard nickte. »Die Frau, die mit Baraccus verheiratet war. Das war während des Krieges. Nachdem die Barriere errichtet worden und der Krieg beendet war, fanden die Zauberer hier oben heraus, dass der Ankläger im Verfahren um den Tempel der Winde, Lothain, ein Verräter war. Und um seinen Verrat aufzudecken, bediente sich der Zauberer Merritt ebenbesagter Magda Searus, um eine Konfessorin zu erschaffen.«
»Ja, sicher.« Zedd nickte. »Und weiter?«
»Die Kästchen der Ordnung wurden ebenfalls während des Großen Krieges erschaffen, die erste Konfessorin dagegen erst sehr viel später. Wie also könnte Das Buch der gezählten Schatten als Schlüssel für das Öffnen der Kästchen erschaffen worden sein, wenn die Konfessorinnen bei der Schaffung der Macht der Ordnung noch gar nicht ersonnen waren?«
Zedd machte ein überraschtes Gesicht. »Dann kann Das Buch der gezählten Schatten also gar nicht der Schlüssel für das Öffnen der Kästchen sein.«
»So ist es. Diese Schriften waren lediglich ein Ablenkungsmanöver, um den Missbrauch der Macht der Ordnung zu verhindern. Sie zu benutzen, selbst das Original, konnte also nur den Tod zur Folge haben. Das Buch der gezählten Schatten ist demzufolge nicht der Schlüssel.«
Richard wandte sich dem Höllenlärm eines immer mehr anschwellenden Polterns zu. Dampf, Rauch, Schatten und Licht, alles wirbelte mit lautem Getöse umeinander. Eine heftige Erschütterung ließ den Boden erzittern. Der Zauberersand, mittlerweile tiefschwarz, wurde in den Strudel hineingesogen und kreiste mit lautem Knirschen über dem bodenlosen Schlund. Die Geräusche der Welt des Lebens und der Unterwelt vermischten sich zu einem entsetzlichen Geheul.
Die Schwestern, deren Arme und Beine in alle Richtungen ragten, kreisten in dem Mahlstrom, während ihre Schreie von dem donnernden Lärm übertönt wurden.
Im Zentrum der rotierenden Masse entstand ein gleißend helles Licht. Strahlen weißglühenden Lichts schössen empor, um die völlig verängstigten Weiber zu umhüllen. Das rotierende Licht, der schwarze Sand und die Blitze verdichteten sich immer mehr, während sie gleichzeitig an Schwung gewannen.
Kreisend wurden die Schwestern ohne die Hilfe eines Seelenführers in das Totenreich hinabgezogen. Noch immer schreiend, fuhren sie bei lebendigem Leibe ein.
Ein gleißender Blitz ließ alles in blendendem Weiß erstrahlen, bis sich schließlich Stille herabsenkte, während alles wieder schwarz wie der Tod wurde.
Als das Licht endlich zurückkehrte, herrschte im Garten des Lebens Totenstille. Das Loch im Boden war nicht mehr zu sehen, sowohl der Zauberersand als auch die Schwestern waren verschwunden. Und auch Jagangs persönliche Leibgarde, die ebenfalls im Garten des Lebens ausgeharrt hatte, war nicht mehr da. Ihre gleichzeitige Anwesenheit mit der Macht der Ordnung im Garten des Lebens war ihnen ebenso zum Verhängnis geworden wie den Schwestern. Jagang hingegen, in dem Halsring, der Niccis Kontrolle unterlag, stand noch an seinem Platz und schien, sofern überhaupt möglich, noch wütender als zuvor.
Als Soldaten der Ersten Rotte durch die Flügeltür hereinströmten, um Richard zu beschützen, gab er ihnen den Befehl, die Türen fest zu verschließen und zu verriegeln. Sie beeilten sich, seinem Befehl Folge zu leisten.
Schließlich trat Richard vor den Altar und klappte das Kästchen der Ordnung wieder zu.
»Du magst deinen erbärmlichen Erfolg gehabt haben«, höhnte Jagang, »aber das hat wenig zu bedeuten. Und ändert nichts.«
Als er mit einem würgenden Laut verstummte, hob Richard eine Hand.
»Lasst ihn ruhig ausreden, Nicci.«
Sie ließ den Kaiser vortreten.
»Die Imperiale Ordnung wird trotzdem hier eindringen und diesen Palast und Euer jämmerliches Volk in Stücke reißen«, knurrte er. »Für den Sieg der gerechten Sache, für die wir alle gekämpft haben, ist meine Person nicht erforderlich. Der Orden wird die Menschheit von der Geißel Eures selbstsüchtigen Volkes befreien, denn unsere Sache ist nicht nur gerecht, sondern Ausdruck des göttlichen Willens. Der Schöpfer ist auf unserer Seite, wie unser Glaube beweist.«
»Die Vertreter der Wahrheit haben stets Verständigung im Sinn«, hielt Richard dagegen. »Unlautere Ideen hingegen werden von erbärmlichen Fanatikern vertreten, die ihren Überzeugungen durch Einschüchterung und brutale Gewalt Geltung zu verschaffen versuchen ... durch Glauben. Und dessen willfähriger Diener ist ungehemmte Gewaltanwendung. Gewalt apokalyptischen Ausmaßes kann nur aus dem Glauben geboren werden, denn die Vernunft entlarvt sinnlose Grausamkeit allein schon aufgrund ihres Wesens. Nur der Gläubige käme auf die Idee, so etwas zu rechtfertigen.«
Jagangs Gesicht färbte sich zornesrot. »Wir tun das Werk des Schöpfers! Die einzig wahre und rechtmäßige Lebensweise ist die fromme Hingabe an den Schöpfer. Die strenge Einhaltung unserer frommen Pflichten wird uns Erlösung und ein ewiges Leben eintragen! Das Blut von Ungläubigen wie dir wird uns an die Seite des Schöpfers höchstpersönlich spülen.«
Richard verzog das Gesicht. »Das ergibt ja nicht einmal in sich einen Sinn.«
»Ein Narr bist du! Allein schon unser Glaube gibt uns recht! Wir allein werden im Leben nach dem Tod dafür belohnt werden, dass wir ihn stets in Ehren gehalten haben. Wir sind seine wahren Kinder, nur uns wird das ewige Leben in seinem Licht vergönnt sein.«
Seufzend schüttelte Richard den Kopf. »Es ist mir schon immer schwergefallen zu glauben, dass ein erwachsener Mann tatsächlich solchen Unsinn glauben kann.«
Jagang knirschte wütend mit den Zähnen. »Foltere mich! Ich akzeptiere den Hass, den du für mich empfindest, denn ich habe stets gewissenhaft meine Pflicht im Dienste eines höheren Menschheitswohls erfüllt.«
»Dir wird kein großer Abgang von der Bühne des Lebens vergönnt sein«, warf Nicci ein. »Weder wird man dich in Ketten vorführen, noch wirst du als Märtyrer herhalten können, oder wegen eines ruhmvollen Todes verehrt werden.
Du bist ein Nichts. Du wirst einfach krepieren und verscharrt werden, damit du nicht länger eine Gefahr für anständige, unschuldige Menschen bist. Für die Zukunft der Menschheit bist du bedeutungslos.«
»Du musst dich vor den Augen aller an mir rächen!«
Richard beugte sich ganz nah zu ihm hin. »Wir stehen, wie stets, vor einem ganzen Berg von Problemen, aber du bist keines davon. Du wirst nichts weiter sein als der langsam zu Staub zerfallende Müll von gestern, denn dein Leben entbehrte jeglicher Bedeutsamkeit.«
Jagang versuchte, nach Richard zu schlagen, doch Niccis Gewalt über ihn dank des Rada’Han riss ihn zurück, wie ein angekettetes Tier. »Du hältst dich in deiner Überheblichkeit für besser als wir, aber das bist du nicht. Du bist nichts weiter als eine armselige Kreatur, die der Schöpfer in diese verdorbene Welt geworfen hat. Außer durch deine Weigerung, zu bereuen und Ihn zu verehren, unterscheidest du dich nicht von uns. Dir geht es nur um Hass, nichts sonst. Du willst deinem Hass gegen den Orden Luft verschaffen.«
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