»Also nach Westen«, sagte sie zu sich selbst.
Ein paar Stunden ging sie durch den Wald und versuchte, den Mond zu ihrer Linken zu halten, auch wenn sie ihn mehr spürte als sah. Die Nacht war kalt, und am Himmel zogen dünne Wolken vorüber, die von einem heftigen Wind vorangetrieben wurden. Von diesem war aber am Waldboden nichts mehr zu spüren, da er es offenbar nicht schaffte, den Schutz durch die Bäume zu überwinden. Im Wald selbst war es kalt und still, und nach den Maßstäben eines Bewohners der Oberfläche war es stockfinster. Halisstra dagegen empfand das diffuse Mondlicht, das seinen Weg in die unteren Regionen des Waldes fand, als See auf leuchtenden silbernen Schatten. Sie blieb stehen, um den Himmel zu betrachten und festzustellen, ob sie sich von der Bahn des Mondes zu sehr vom Kurs abbringen ließ, als sie in der Ferne Wasserrauschen hörte.
Leise ging sie weiter durch die Nacht, bis sie schließlich am Ufer eines breiten, flachen Stromes ankam, der sich seinen Weg über ein Flußbett aus Kieseln bahnte.
»Ob er das ist?« flüsterte sie.
Er erschien ihr breit genug, und er befand sich in etwa dort, wo sie ihn vermutet hatte – anderthalb Nachtmärsche von dem Punkt, an dem man sie gefangengenommen hatte. Halisstra hockte sich hin und betrachtete das Gewässer. Wenn sie die falsche Entscheidung traf, konnte sie dem Strom in irgendeine abgelegene, unbewohnte Region des Waldes folgen, wo sie vor Hunger und Kälte sterben würde. Auf der anderen Seite waren ihre Aussichten ohnehin nicht eben erfreulich, ganz gleich, wie sie sich entschied. Halisstra schnaubte, dann folgte sie dem Fluß zu ihrer Linken. Was hatte sie zu verlieren?
Sie legte gut anderthalb weitere Kilometer zurück, als das Marschieren und die kalte Luft ihren Hunger unerträglich werden ließen, so daß sie beschloß, Halt zu machen und sich ein mitternächtliches Mahl aus den spärlichen Vorräten zuzubereiten, die ihr noch verblieben waren. Sie nahm den Rucksack von den Schultern und sah sich um, als sie ein sonderbar schneidendes Geräusch hörte, das sich rasch näherte. Ohne nachzudenken, warf sich Halisstra zu Boden, denn instinktiv hatte sie das Geräusch längst erkannt.
Zwei kleine Pfeile flogen an ihr vorüber, einer bohrte sich in einen Baumstamm gleich hinter ihr, der andere verschwand in der Finsternis, nachdem er von ihrem gepanzerten Ärmel abgeprallt war. Sofort rollte sie sich in den Schutz eines Baums und sang rasch einen Unsichtbarkeitszauber, da sie hoffte, so den Angreifern kein Ziel zu bieten. Dabei warf sie zufällig einen Blick auf den Pfeil, der im Stamm steckte. Er war klein, schwarz und mit roten Federn besetzt: ein Bolzen aus der Armbrust eines Drow!
Mehrere Angreifer pirschten heimlich näher, den einzigen Hinweis auf ihre Anwesenheit lieferte das Rascheln der Blätter auf dem Waldboden oder ein gelegentliches leises Pfeifsignal. Halisstra erhob sich langsam, hielt sich aber im Schutz des Baumes.
Mit leiser Stimme rief sie: »Feuer einstellen. Ich trage die Waffen einer Eilistraee-Priesterin, die ich tötete. Ich diene Lolth.«
In ihrer Stimme war eine Spur eines Bae’qeshel -Lieds zu hören, das ihren Worten eine unbestreitbare Ernsthaftigkeit verlieh.
Mehrere Drow näherten sich ihr weiter, was sie am Rascheln im Unterholz erkannte. Dann sah Halisstra die Männer in Grün und Schwarz, die sich wie Panther durch den im Mondschein liegenden Wald bewegten. Sie spähten in die Finsternis und suchten sie, doch ihr Zauber verbarg sie ausreichend vor ihren Blicken.
Sie legte die Hand auf das Heft von Seylls Schwert und veränderte leicht ihre Position, um ihren Schild zu heben, für den Fall, daß es ihnen gelingen sollte, die Unsichtbarkeit zu durchschauen.
Einer der Drow blieb vor ihr stehen und erwiderte: »Wir haben Euch gesucht.«
»Mich?« fragte Halisstra. »Ich ersuche um eine Audienz bei Tzirik, könnt Ihr mich zu ihm bringen?«
Die Jaelre-Krieger hielten inne. Mit den Fingern tauschten sie sich rasch aus, dann ließ der Krieger, der sie angesprochen hatte, die Armbrust sinken.
»Eure Truppe von Spinnenküssem kam vor drei Tagen in die Minauth-Feste«, sagte er. »Wurdet Ihr von den anderen getrennt?«
In der Hoffnung, Quenthel und die anderen hätten nichts getan, um sich die Jaelre zu Feinden zu machen, entschied sich Halisstra für eine ehrliche Antwort.
»Ja«, sagte sie.
»Gut«, erwiderte der Fremde. »Hohepriester Tzirik befahl uns, Euch zu suchen. Wir können Euch jetzt zu ihm bringen. Was aus Euch wird, ist seine Sache.«
Halisstra hob ihre Unsichtbarkeit auf und nickte. Die Jaelre scharten sich um sie und machten sich in schnellem Tempo auf nach Süden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befinden mochte, während sich die Jaelre in den Wäldern bestens auszu-kennen schienen. Nach weniger als einer Stunde hatten sie die Ruine einer Feste erreicht, deren weiße Mauern im Mondschein leuchteten. Der Strom verlief nur einen Steinwurf weit von der Feste entfernt.
Ich hatte tatsächlich den richtigen Fluß gefunden, dachte Halisstra etwas überrascht.
Wie es schien, war sie zwei Nächte lang auf dem richtigen Weg gewesen, sie war nur ein paar Meilen zu weit nach rechts geraten. Der Gedanke, was geschehen wäre, wenn sie den Strom überquert hätte und weitergegangen wäre, ließ sie erschaudern.
Die Jaelre-Späher führten Halisstra in die Feste, vorbei an aufmerksamen Wachen, die in Verstecken kauerten und ein Auge auf den Wald ringsum hatten. Sie stellte fest, daß die Anlage längst nicht so heruntergekommen war, wie es von außen schien. Die Wachen brachten sie in einen bescheidenen Saal, in dem ein Feuer im Kamin brannte und dessen Wände mit Jagdtrophäen behängt waren, die überwiegend Kreaturen von der Oberfläche zeigten, da sie Halisstra nicht vertraut waren. Sie wartete eine Weile, während Hunger und Durst immer schlimmer wurden, doch schließlich kam ein kleiner, kräftig gebauter Mann mittleren Alters herein, der sein Gesicht hinter einem zeremoniellen schwarzen Schleier verborgen hatte.
»Habe ich aber Glück«, sagte er mit sonorer Stimme. »Zweimal in drei Tagen sind Diener Lolths in mein Zuhause gekommen und haben darum gebeten, mich persönlich zu sprechen. Allmählich frage ich mich, ob Lolth mich von meiner Ergebenheit gegenüber dem Maskierten Gott abbringen will.«
»Ihr seid Tzirik?« fragte Halisstra.
»Ja«, sagte der Priester, verschränkte die Arme und betrach’ tete sie. »Ihr müßt Halisstra sein.«
»Ich bin Halisstra Melarn, erste Tochter des Hauses Melarn, des zweiten Hauses von Ched Nasad. Soweit ich weiß, sind meine Gefährten hier.«
»Das sind sie«, entgegnete Tzirik. Er lächelte kühl. »Doch alles zu seiner Zeit. Wie ich sehe, tragt Ihr die Waffen einer Priesterin Eilistraees. Wie das?«
»Wie ich schon Euren Kriegern sagte, wurde meine Gruppe vor fünf Tagen ein Stück entfernt von hier von Oberflächen-Elfen angegriffen. Meine Gefährten konnten fliehen, doch mich nahm man gefangen und brachte mich an einen Ort namens Elfenbaum. Dort besuchte mich eine Frau namens Seyll Auzkovyn und versuchte, mich zu Eilistraee zu bekehren.«
»Eine einfältige Idee«, kommentierte Tzirik. »Aber fahrt fort.«
»Ich ließ sie glauben, ich könne bekehrt werden«, fuhr Halisstra fort. »Sie bot mir an, sie zu einem Ritual zu begleiten, das vor zwei Nächten stattfinden sollte. Auf dem Weg zu dieser Zeremonie gelang mir die Flucht.«
Sie blickte auf Kettenhemd und Waffen. Daß die Frau so naiv gewesen war, versetzte Halisstra immer noch in Erstaunen. Seyll war ihr nie wie eine dumme Drow vorgekommen, und doch hatte sie Halisstra völlig falsch eingeschätzt.
»Jedenfalls«, endete sie, »nahm ich mir die Freiheit, Dinge auszuleihen, für die Seyll keine Verwendung mehr hatte. Immerhin hatten die Leute von Elfenbaum zuvor meine Waffen und die Rüstung beschlagnahmt.«
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