1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Lass dir erst mal Haare auf der Brust wachsen, kleiner Bruder“, lachte Braxton, der mit Brandon an seiner Seite vortrat.
Gelächter ertönte und Aidan wurde hochrot, da Braxton ihn offensichtlich vor allen anderen in Verlegenheit gebracht hatte.
Kyra fühlte sich schlecht für ihren kleinen Bruder. Sie kniete sich vor ihn, sah in an und legte eine Hand auf seine Wange.
„Du wirst ein besserer Krieger werden als sie alle zusammen“, versicherte sie ihm leise, sodass nur er es hören konnte. „Sei geduldig, und pass in der Zwischenzeit auf Volis auf. Es braucht dich. Mach mich stolz. Ich werde zurückkehren, das verspreche ich, und eines Tages werden wir große Schlachten zusammen schlagen.“
Aidan schien sich ein wenig zu entspannen, denn er lehnte sich vor und umarmte sie erneut.
„Ich will nicht, dass du gehst“, sagte er leise. „Ich habe von dir geträumt. Ich habe geträumt…“ Er sah sie zögernd mit ängstlichen Augen an. „…dass du da draußen stirbst.“
Kyra erschrak bei seinen Worten, und besonders, als sie den Blick in seinen Augen sah. Er machte ihr Angst und sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Anvin trat neben sie und legte ein dickes, warmes Fell über ihre Schulter, das sie wärmte. Sie stand auf und fühlte sich zehn Pfund schwerer, doch es hielt den Wind ab und sie fröstelte nicht mehr. Er lächelte.
„Deine Nächte werden lang sein, und das nächste Feuer vielleicht meilenweit weg“, sagte er und umarmte sie.
Ihr Vater trat schnell vor und umarmte sie ebenfalls, es war die starke Umarmung eines Kriegsherrn. In seinen Armen fühlte sie sich sicher und beschützt.
„Du bist meine Tochter“, sagte er fest. „Vergiss das nicht.“ Dann senkte er seine Stimme, damit die anderen ihn nicht hören konnten, und fügte hinzu, „Ich liebe dich.“
Sie war überwältigt von Gefühlen, doch bevor sie antworten konnte, drehte er sich schnell um und eilt davon. Im selben Augenblick winselte Leo, sprang sie an und stupste mit seiner Nase gegen ihre Brust.
„Er will mit dir kommen“, bemerkte Aidan. „Nimm ihn mit – du brauchst ihn viel mehr als ich, wenn ich in Volis eingepfercht bin. Er gehört sowieso dir.“
Kyra umarmte Leo. Sie konnte ohnehin nicht ablehnen, denn er weigerte sich, von ihrer Seite zu weichen. Der Gedanke, dass er sie begleiten würde, spendete ihr Trost, da sie ihn zutiefst vermisst hatte. Sie konnte ein weiteres Paar Augen und Ohren gut gebrauchen und niemand war treuer als Leo.
Sie war bereit.
Kyra kletterte in Andors Sattel und die Männer ihres Vater machten Platz. Sie hielten als Zeichen des Respekt Fackeln entlang der Brücke hoch, verscheuchten die Nacht und erleuchteten den Weg für sie. Sie blickte über sie hinweg und sah den Himmel, der sich schnell verdunkelte, die Wildnis, die vor ihr lag. Sie spürte Aufregung, Angst, und ein Gefühl der Pflicht, das alle anderen übertraf. Ein Zielbewusstsein. Vor ihr lag die wichtigste Aufgabe ihres Lebens, eine Mission, die sich nicht nur auf ihre Identität, sondern auf das Schicksal ganz Escalons auswirken würde. Der Einsatz hätte nicht höher sein können.
Ihr Stab hing über der einen Schulter, der Bogen über der anderen, Leo und Deirdre an ihrer Seite, auf Andor sitzend unter den Blicken der Männer ihres Vater ritt Kyra auf das Stadttor zu. Zuerst ritt sie langsam an den Männern mit den Fackeln vorbei, und hatte das Gefühl in einen Traum zu reiten, in ihr Schicksal. Sie drehte sich nicht um, denn sie wollte ihre Entschlossenheit nicht verlieren. Ein leises Horn, das einer der Männer ihres Vaters blies, war ein Segen für ihre Reise und Zeichen des Respekts.
Sie wollte Andor antreiben, doch er hatte ihren Wunsch schon gespürt. Zuerst fiel er in einen Trab, dann in einen Galopp.
Kurze Zeit später jagte Kyra durch den Schnee, durch die Tore von Argos, über die Brücke, auf das offene Feld, den kalten Wind in den Haare und vor ihr nichts als einer langen Straße, wilde Kreaturen und die aufziehende Dunkelheit der Nacht.
Merk rannte durch den Walt, stolperte den Hügel hinunter und wand sich zwischen Bäumen hindurch, während die Blätter von Whitewood unter seinen Füßen knirschten, als er rannte, so schnell er konnte. Sein Blick war auf die fernen Rauchwolken am Horizont gerichtet, die vor dem blutroten Sonnenuntergang aufstiegen und er spürte ein Gefühl der Dringlichkeit in sich wachsen. Er wusste, dass das Mädchen irgendwo da unten war. Vielleicht wurde sie in diesem Augenblick umgebracht und er konnte seine Beine nicht zwingen, schneller zu laufen.
Das Töten schien ihn zu finden; es erwartete ihn hinter jeder Kurve, scheinbar jeden Tag – so wie andere Männer zum Abendessen gerufen wurden. Er hatte einen Termin mit dem Tod , pflegte seine Mutter zu sagen. Diese Worte hallten durch seinen Kopf; sie hatten ihn sein Leben lang verfolgt. War es eine selbsterfüllende Prophezeiung? Oder war er mit einem schwarzen Stern über seinem Haupt geboren worden?
Das Töten war für Merk ein natürlicher Teil seines Lebens, wie atmen oder zu essen, ganz egal, für wen er es tat oder wie. Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Abscheu, als ob er sein ganzes Leben ausspeien wollte. Doch während alles in ihm ihn anschrie umzukehren, ein neues Leben anzufangen, seine Pilgerfahrt zum Turm von Ur fortzusetzen, konnte er es einfach nicht tun. Wieder einmal rief die Gewalt ihn, und jetzt war nicht die Zeit ihren Ruf zu ignorieren.
Merk rannte, die dicken Rauchschwaden kamen näher und erschwerten ihm das Atmen. Der Gestank des Rauchs brannte in seiner Nase und ein wohl bekanntes Gefühl begann, von ihm Besitz zu ergreifen. Es war nicht Angst und nach all diesen Jahren auch keine Aufregung. Es war ein Gefühl der Vertrautheit, des Mörders, der er geworden war. Das geschah immer, wenn er in die Schlacht zog – seinen eigene Schlacht. In seiner Version der Schlacht tötet er seinen Gegner von Angesicht zu Angesicht; er musste sich nicht hinter einem Visier oder einer Rüstung verstecken und brauchte auch nicht den Jubel der Menge wie diese eingebildeten Ritter. Seiner Ansicht nach war das die mutigste Schlacht von allen, die wahren Kriegern wie ihm vorbehalten war.
Und doch fühlte Merks sich heute anders. Normalerweise war es ihm egal, wer lebte oder starb; es war nur eine Mission. Damit konnte er einen klaren Kopf bewahren, frei von den Nebeln der Emotion. Doch diesmal war es anders. Zum ersten Mal solange er denken konnte, zahlte ihn niemand dafür. Er ging aus eigenem Antrieb vor, nur aus Mitleid für das Mädchen wollte er Gerechtigkeit üben. Er war gefühlsmäßig bei der Sache und es gefiel ihm nicht. Er bedauerte, dass er nicht früher gehandelt hatte. Wie hatte er sie nur fortschicken können?
Merk rannte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Er trug keine Waffen bei sich und brauchte auch keine. Er hatte seinen Dolch in seinem Gürtel und das war genug. Vielleicht brauchte er nicht einmal den. Er bevorzugte es, sich ohne Waffen in die Schlacht zu stürzen und seine Gegner zu überraschen. Davon abgesehen konnte er seinen Gegnern die Waffen abnehmen und sie gegen sie verwenden. Damit hatte er sofort ein Arsenal zur Verfügung, ganz gleich wohin er ging.
Merk stürmte aus dem Wald hervor. Die Bäume wichen einer offenen Ebene mit sanften Hügeln und die große rote Sonne, die tief am Horizont hing, begrüßte ihn. Das Tal erstreckte sich vor ihm, der Himmel darüber schwarz, als wäre er wütend – voller Rauch und dann sah er die brennenden Überreste der Farm des Mädchens. Merk konnte sie von hier aus hören, das Jubeln der Männer, Verbrecher, deren Stimmen voller Blutdurst waren.
Mit seinem geübten Auge betrachtete er die Szene und sah sie sofort: ein Dutzend Männer, deren Gesichter von Fackeln erhellt wurden, als sie hierhin und dorthin rannten und alles in Brand setzten. Einige kamen von den Stallungen zum Haus, hielten Fackeln an die Strohdächer, während andere die unschuldigen Tiere mit Äxten schlachten. Einer von ihnen zerrte einen Körper an den Haaren über den aufgeweichten Boden.
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