Er hielt sie fest an den Schultern und sein eindringlicher Blick machte ihr Angst.
„Verstehst du mich?“, sagte er. „Es ist eine gefährliche Reise für einen Mann – und ganz besonders für ein einzelnes Mädchen. Ich kann niemanden entbehren, um dich zu begleiten. Du musst stark genug sein, es alleine zu tun. Bist du das?“
Sie konnte die Angst in seiner Stimme hören, die Liebe eines besorgten Vaters, der hin und hergerissen war, und sie nickte, stolz, dass ihr Vater ihr eine solche Mission zutraute.
„Das bin ich, Vater“, sagte sie stolz.
Er sah sie eindringlich an, dann nickte er schließlich zufrieden. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen.
„Von all meinen Männern“, sagte er, „von all diesen Kriegern, bis du diejenige, die ich am meisten brauche. Nicht deine Brüder, nicht einmal meine vertrautesten Krieger. Du bist die eine, die einzige, die diesen Krieg gewinnen kann.
Kyra war verwirrt und überwältigt; sie verstand nicht, was er meinte. Sie wollte ihn fragen, als sie plötzlich eine Bewegung wahrnahm.
Sie drehte sich um und sah Baylor, den Pferdemeister ihres Vaters, der sich ihnen wie immer lächelnd näherte. Ein kleiner, dicker Mann mit buschigen Brauen und dünnem Haar, kam mit federndem Schritt und lächelnd auf sie zu, dann sah er ihren Vater an, als ob er auf seine Zustimmung wartete.
Ihr Vater nickte ihm zu und Kyra fragte sich, was vor sich ging, als Baylor sich ihr zuwandte.
„Ich habe gehört, du wirst eine Reise machen“, näselte Baylor. „Dafür wirst du ein Pferd brauchen.
Kyra runzelte die Stirn.
„Ich habe ein Pferd“, antwortete sie und sah sich nach dem braven Pferd um, das sie im der Schlacht gegen die Männer des Lords geritten hatte. Es stand auf der anderen Seite des Hofs an einen Pfosten gebunden.
Baylor lächelte.
„Das ist kein Pferd“, sagte er.
Baylor sah ihren Vater an und der nickte.
„Folge mir“, sagte er, und drehte sich um, um in Richtung der Stallungen vorzugehen.
Kyra sah ihm irritiert hinterher, dann sah sie ihren Vater an. Er nickte.
„Folge ihm“, sagte er. „Du wirst es nicht bereuen.“
* * *
Kyra folgte Baylor über den verschneiten Hof, gefolgt von Anvin, Arthfael und Vidar zu den niedrigen Stallungen. Kyra fragte sich, was Baylor gemeint hatte und welches Pferd er für sie ausgewählt hatte. Ihrer Meinung nach gab es keine großen Unterschiede zwischen den Pferden.
Als sie das weitläufige Gebäude erreichten, das mindestens hundert Meter lang war, wandte sich Baylor zu ihr um.
„Die Tochter unseres Lords wird ein feines Pferd brauchen, das sie hinbringt, wo auch immer sie hingehen wird.“
Kyras Herz schlug schneller. Sie hatte noch nie zuvor ein Pferd von Baylor bekommen, das war eine Ehre, die normalerweise verdienten Kriegern vorbehalten war. Sie hatte immer davon geträumt, eines zu bekommen, wenn sie alt genug war und es sich verdient hatte. Es war eine Ehre, die bisher nicht einmal ihren älteren Brüdern zuteil geworden war.
Anvin nickte stolz.
„Du hast es verdient“, sagte er.
„Wenn du mit einem Drachen umgehen kannst“, fügte Arthfael mit einem Lächeln hinzu, „dann kannst du auch mit einem Schlachtross umgehen.“
Vor dem Stall sammelte sich eine kleine Menge, die ihnen gefolgt war. Die Männer machten eine Pause, offensichtlich neugierig zu erfahren, wohin sie geführt wurde. Ihre beiden älteren Brüder, Brandon und Braxton schlossen sich ihnen ebenfalls an und starrten wortlos in Kyras Richtung – mit Neid in den Augen. Schnell wandten sie den Blick ab, wie immer zu stolz, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen von Lob ganz zu schweigen. Leider hatte sie von ihnen nichts anderes erwartet.
Kyra hörte Schritte und sah sich um, erfreut zu sehen, dass ihre Freundin Deirdre sich zu ihr gesellte.
„Ich habe gehört, du verlässt uns“, sagte sie, während sie neben ihr her ging.
Kyra ging neben ihrer neuen Freundin und fand Trost in ihrer Gesellschaft. Sie dachte, an ihre gemeinsame Zeit in der Zelle des Lord Regenten, all das Leid, das sie ertragen hatten und ihre gemeinsame Flucht, und das Band, das sie zwischen ihnen spürte. Deirdre hatte viel Schlimmeres durchgemacht als sie, und als sie sie ansah und die dunklen Ringe unter ihren Augen sah, die Aura des Leids und der Traurigkeit, die sie noch immer umgab, fragte sie sich, was aus ihr werden würde. Sie konnte sie nicht einfach allein in diesem Fort zurücklassen. Nachdem die Armee nach Süden zog, wäre Deirdre allein.
„Ich könnte jemanden gebrauchen, der mich auf meiner Reise begleitete“, sagte Kyra und hatte eine Idee, als sie die Worte aussprach.
Deirdre sah sie an, riss erfreut die Augen auf und lächelte. Die dunkle Aura schwand.
„Ich hatte gehofft, dass du fragen würdest.“
Anvin der zugehört hatte, runzelte die Stirn.
„Ich weiß nicht, ob dein Vater zustimmen würde. „Du hast eine ernste Aufgabe vor dir.“
„Ich werde mich nicht einmischen“, sagte Deirdre. „Wenn ich zurück zu meinem Vater will, muss ich Escalon sowieso durchqueren. Und wenn ich ehrlich bin, ist es mir lieber, wenn ich es nicht allein tun muss.“
Anvin rieb sich den Bart.
„Deinem Vater würde das nicht gefallen“, sagte er zu Kyra. „Sie könnte eine Belastung werden.“
Kyra legte beruhigend die Hand auf Anvins Arm. Sie hatte ihren Entschluss gefasst.
„Deirdre ist meine Freundin“, sagte sie. „Ich würde sie nie im Stich lassen, genauso wie du nie einen deiner Männer im Stich lassen würdest. Was sagst du immer? Wir lassen niemanden zurück .“
Kyra seufzte.
„Ich habe vielleicht geholfen, Deirdre aus dieser Zelle zu befreien“, fügte sie hinzu, „doch sie hat genauso mir geholfen. Ich stehe in ihrer Schuld. Tut mir leid, doch was mein Vater denkt, interessiert mich nicht. Ich bin es, die Escalon allein durchqueren soll, nicht er. Sie kommt mit mir.
Deirdre lächelte und hakte sich bei Kyra unter, sichtlich stolz. Kyra fühlte sich wohler bei dem Gedanken, sie auf ihrer Reise dabeizuhaben, und sie wusste, dass es die richtige Entscheidung war.
Kyra bemerkte, dass ihre Brüder ganz in ihrer Nähe gingen und sie konnte nicht umhin, eine gewisse Enttäuschung zu verspüren, dass sie nicht beschützender waren, dass sie nicht einmal daran gedacht hatten, anzubieten, sie zu begleiten. Doch sie empfanden sie als Konkurrenz. Es machte sie traurig, dass ihre Beziehung so war, doch sie konnte andere nicht ändern. Ohne sie war sie sowieso besser aufgehoben. Sie waren großmäulige Draufgänger und sie hätten sicher irgendetwas Dummes getan, das sie in Schwierigkeiten gebracht hätte.
„Ich würde dich auf gerne begleiten“, sagte Anvin, und man konnte den Selbstvorwurf in seiner Stimme hören. „Der Gedanke, dass du Escalon allein überqueren sollst, gefällt mir nicht.“ Er seufzte. „Doch dein Vater braucht mich mehr denn je. Er hat mich gebeten, ihn in den Süden zu begleiten.“
„Auch ich, würde dich gerne begleiten“, fügte Arthfael hinzu, „doch auch ich soll den Männern in den Süden folgen.“
„Und ich soll in seiner Abwesenheit über Volis wachen“, fügte Vidar hinzu.
Kyra war gerührt von ihrer Unterstützung.
„Macht euch keine Sorgen“, antwortete sie. „Es ist eine Reise von drei Tagen. Ich werde es schon schaffen.“
„Das wirst du“, stimmte Baylor ein. „Und dein neues Pferd wird dafür sorgen.“
Damit stieß Baylor die Tür zu den Stallungen auf und sie folgen ihm in das Gebäude, in dem der Geruch der Pferde schwer in der Luft lag.
Kyras Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht, als sie ihm hinein folgte. Die Luft war kühl und feucht und erfüllt von dem nervösen Scharren der Pferde. Sie sah sich um und sah vor sich Reihen der schönsten Pferde, die sie je gesehen hatte – große, starke, schöne Pferde, schwarz und braun, jedes einzelne ein Champion. Der Stall war eine wahre Schatztruhe.
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