Für Astrid —
Luxus, Notwendigkeit, Besessenheit
Mit meiner Liebe
Jede Stunde werden ungezählte Trillionen winziger Lebewesen — Mikroben, Bakterien, die Landarbeiter der Natur — geboren und sterben. Sie zählen nicht viel, es sei denn, durch die Größe ihrer Zahl und die Akkumulation ihrer winzigen Leben. Sie kennen keine tiefere Wahrnehmung, noch leiden sie. Der Tod von hundert Trillionen würde nicht annähernd die gleiche Bedeutung gewinnen wie ein einziger menschlicher Tod.
Innerhalb der Größenordnungen aller Lebewesen, seien sie klein wie Mikroben oder groß wie Menschen, besteht eine proportionale Gleichmäßigkeit wie die der Zweige eines großen Baumes, die zusammengenommen der Masse der Äste gleichkommen, wie die Äste ihrerseits gemeinsam die Masse des Stammes aufwiegen.
Wir glauben dies so fest, wie die Könige von Frankreich an ihr Gottesgnadentum glaubten. Welche unserer Generationen wird dem nicht zustimmen?
La Jolla, Kalifornien
Das rechteckige, schiefergraue Schild erhob sich auf einem niedrigen Hügel lindgrünen und büscheligen koreanischen Grases, umgeben von Schwertlilien und auf einer Seite flankiert von einem dunklen, zementierten Teich, auf dem Seerosen blühten. In die Straßenseite der Tafel war der Name GENETRON in roter Antiquaschrift graviert, und unter dem Namen stand das Motto: Wo kleine Dinge große Veränderungen bewirken.
Die Laboratorien und Büros der Genetron waren in einem u- förmigen kahlen Betongebäude im Bauhausstil untergebracht, dessen Flügel einen rechteckigen Gartenhof umgaben. Der Hauptkomplex hatte zwei Ebenen mit außenliegenden Korridoren. Jenseits des Hofes und hinter einem künstlichen Hügel, dessen neue Bepflanzung noch nicht vollständig war, stand ein vierstöckiges, würfelförmiges Bauwerk mit schwarzen Glasfassaden hinter einem elektrifizierten Stacheldrahtzaun.
Dies waren die zwei Seiten der Genetron: die offenen Laboratorien, wo die Biochip-Forschung betrieben wurde, und das Gebäude, wo im Auftrag des Verteidigungsministeriums militärische Anwendungen erforscht wurden.
Selbst für die offenen Laboratorien galten strenge Sicherheitsbestimmungen. Alle Beschäftigten trugen laserbedruckte Plaketten, und der Zutritt Nichtbeschäftigter zu den Laboratorien wurde sorgfältig überwacht. Die Firmenleitung der Genetron — fünf Absolventen der Stanford- Universität, die drei Jahre nach beendetem Studium die Gesellschaft gegründet hatte — war sich darüber im klaren, daß Industriespionage bei weitem wahrscheinlicher war als ein geheimdienstlicher Einbruch in den schwarzen Würfel. Doch war die Atmosphäre nach außen hin gelockert und heiter, und man gab sich große Mühe, die Sicherheitsmaßnahmen unauffällig durchzuführen.
Ein lang aufgeschossener Mann mit gebeugten Schultern und widerspenstigem schwarzen Haar befreite sich aus dem Innern eines roten Volvo-Sportwagens und nieste zweimal, bevor er den Angestelltenparkplatz überquerte. Die Gräser begannen ihre frühsommerliche Blüte, und ihr Pollen bewirkte eine wahre Orgie von Schleimhautreizungen. Beiläufig grüßte er Walter, den nicht mehr jungen, aber drahtigen Wachmann. Walter überprüfte ebenso beiläufig seine Plakette, indem er sie durch das Laser-Ablesegerät laufen ließ. »Nicht viel Schlaf gehabt, Mr. Ulam?« sagte er.
Vergil schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Parties, Walter.« Seine Augen waren gerötet, die Nase vom ständigen Reiben mit dem Taschentuch, das nun feucht und ergeben in seiner Tasche ruhte, angeschwollen.
»Wieso arbeitende Menschen wie Sie mitten in der Woche zu Parties gehen können, verstehe ich nicht.«
»Die Damen verlangen es, Walter«, sagte Vergil im Weitergehen. Walter grinste und nickte, obwohl er seine Zweifel daran hatte, daß Vergil viel von Damen beansprucht wurde, sei es mit oder ohne Parties. Wenn seit Walters Tagen kein ernstlicher Verfall der gesellschaftlichen Normen stattgefunden hatte, konnte niemand mit einem wochenalten Stoppelbart auf große Erfolge hoffen.
Ulam war bei Genetron nicht die einnehmendste Gestalt. Seine Einsneunzig wurden von sehr großen Plattfüßen getragen. Er hatte fünfundzwanzig Pfund Übergewicht und litt mit zweiunddreißig Jahren unter Rückenschmerzen und zu hohem Blutdruck. Es war ihm unmöglich, sich so sauber zu rasieren, daß kein Bartschatten sichtbar war.
Seine Stimme war nicht geeignet, Freunde zu gewinnen — rauh, etwas schnarrend und zur Lautheit neigend.
Zwei Jahrzehnte in Kalifornien hatten seinen texanischen Akzent geglättet, doch wenn er sich aufregte oder zornig wurde, setzte sich das alte Idiom mit beinahe schmerzhafter Deutlichkeit durch.
Seine einzige Auszeichnung waren ein Paar von üppigen langen Wimpern verteidigte, wunderbar smaragdgrüne Augen, groß und ausdrucksvoll. Sie waren jedoch mehr dekorativ als funktional, denn sie blickten durch eine große Brille mit schwarzem Gestell. Vergil war kurzsichtig.
Zwei und drei Stufen auf einmal nehmend, erstieg er die Treppe. Im zweiten Stock ging er den offenen Korridor entlang zum gemeinsamen Geräteraum der Biochip-Abteilung, bekannt unter dem Namen Gemeinschaftslabor. Üblicherweise begann sein Arbeitstag mit der Überprüfung von Proben in einer der fünf Ultrazentrifugen. Seine letzte Partie rotierte seit sechzig Stunden mit mehr als dreitausend Umdrehungen pro Minute und war jetzt bereit für die Analyse.
Für einen Mann seiner Größe hatte Vergil überraschend feine und empfindsame Hände. Er hob einen kostspieligen schwarzen Titanrotor aus der Ultrazentrifuge und schloß die stählerne Vakuumverriegelung. Er legte den Rotor auf einen Arbeitstisch und entfernte nacheinander die fünf gedrungenen Glasröhren, die in Schlingen unter der pilzähnlichen Kappe aufgehängt waren. In jeder Röhre hatten sich mehrere klar abgegrenzte weißliche bis beigefarbene Schichten gebildet.
Hinter dem dicken Brillenrand hoben sich die buschigen schwarzen Brauen und zogen sich zusammen. Er lächelte und zeigte Zähne, die vom Trinken fluorisierten Wassers seit seiner Kindheit bräunlich gefleckt waren.
Er war im Begriff, die Pufferlösung und die unerwünschten Schichten abzusaugen, als das Labortelefon piepte. Er stellte das Glas in einen Ständer und nahm den Hörer ab. »Gemeinschaftslabor, Ulam.«
»Vergil, Rita hier. Ich sah Sie hereinkommen, aber Sie waren nicht in Ihrem Labor…«
»Weil ich hier bin. Was gibt es, Rita?«
»Sie baten mich… ah… sagten mir, ich solle Ihnen Bescheid geben, wenn ein gewisser Herr kommt. Ich glaube, er ist hier.«
»Michael Bernard?« fragte Vergil mit erhobener Stimme.
»Ich glaube, er ist es. Aber…«
»Ich komme sofort.«
»Vergil…«
Er legte auf und stand noch einen kurzen Moment unschlüssig über den Gläsern, dann ließ er sie, wo sie waren.
Genetrons Foyer war ein kreisförmiger Auswuchs im Erdgeschoß der Ostecke, umgeben von Panoramafenstern und großzügig ausgestattet mit Zimmerpflanzen in verchromten Übertöpfen. Die Morgensonne schien weiß und blendend herein und brachte den himmelblauen Teppichboden zum Leuchten, als Vergil von der Laborseite hereinkam. Rita stand hinter ihrem Schreibtisch auf, als er vorbeiging.
»Vergil…«
»Danke«, sagte er. Sein Blick war unverwandt auf den distinguiert aussehenden grauhaarigen Mann gerichtet, der bei dem einzigen Sofa stand. Es gab keinen Zweifel, der Mann war Michael Bernard. Vergil erkannte ihn von Abbildungen und dem Titelfoto, das die Zeitschrift Time von ihm gebracht hatte. Vergil streckte die Hand aus und setzte ein breites Lächeln auf. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Bernard.«
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