»So geht es mir immer in den Zirkusnächten. Ich werde erst nach der Vorstellung gefüttert. Für gewöhnlich bekomme ich ein knuspriges Mädchen zum Abendbrot. . .«
Jane trat rasch einen Schritt zurück und zog Michael an sich.
»Ach, reg dich nicht auf!« beschwichtigte sie der Drache. »Ihr wärt beide viel zu klein. Außerdem seid ihr Menschenkinder, und die schmek-ken nicht. — Man läßt mich hungern«, erklärte er, »damit ich meine Kunststücke besser ausführe. Aber nach der Vorstellung . . .« Ein gieriges Licht trat in seine Augen, und mit weit heraushängender Zunge trollte er sich davon. »Yum, yum!« zischte er leise und gierig vor sich hin.
»Ich bin froh, daß wir nur Menschenkinder sind«, wandte sich Jane an Michael. »Es muß schrecklich sein, von einem Drachen gefressen zu werden!«
Aber Michael war schon vorausgeeilt und sprach eifrig mit den drei kleinen Böcklein.
»Wie geht es?« fragte er gerade, als Jane hinzutrat.
Und das älteste Böcklein, das sich offensichtlich zum Vorsingen bereit erklärt hatte, räusperte sich und begann:
»Horn und Huf, Huf und Horn ... «
»Na, ihr Böcklein!« fuhr Orions laute Stimme dazwischen. »Ihr könnt euer Verschen aufsagen, wenn's soweit ist. Jetzt macht euch fertig, es fängt gleich an! — Folgt mir, bitte!« forderte er die Kinder auf.
Gehorsam trotteten sie hinter der glitzernden Gestalt her, und wo sie vorübergingen, drehten sich die goldenen Tiere um und starrten sie an. Fetzen der geflüsterten Unterhaltung erreichten ihr Ohr.
»Wer ist das?« fragte ein mächtiger, sternfunkelnder Stier; er blieb stehen und wirbelte mit seinen Hufen den Manegensand auf, während er ihnen nachblickte. Und ein Löwe wandte sich um und flüsterte dem Bullen etwas ins Ohr. Sie verstanden »Banks« und »Ausgehabend«, aber mehr nicht. Inzwischen war auf den Rängen jeder Platz mit einer schimmernden, funkelnden Gestalt besetzt. Nur drei Sitze waren noch leer, und zu ihnen führte Orion jetzt die Kinder.
»Das sind eure Plätze. Wir haben sie für euch freigehalten. Direkt unter der Hofloge. Ihr werdet ausgezeichnet sehen. Paßt auf! Es fängt gerade an!«
Jane und Michael wandten den Kopf und sahen, daß die Manege sich geleert hatte, während sie zu ihren Sitzen emporgeklettert waren. Sie knöpften ihre Mäntel auf und beugten sich aufgeregt vor.
Von irgendwoher ertönte eine Trompetenfanfare. Sie schallte durch das ganze Zelt, dazwischen hörte man ein hohes, melodisches Wiehern.
»Die Kometen!« sagte Orion und setzte sich neben Michael. Ein heftig nickendes Haupt erschien am Eingang, und hintereinander galoppierten neun Kometen in die Manege, mit goldgeflochtenen Mähnen und einem silbernen Federbusch auf dem Kopf.
Plötzlich blies die Musik einen Tusch, und wie mit einem Schlag fielen die Kometen auf die Knie und beugten die Köpfe. Ein warmer Lufthauch strich durch die Manege.
»Wie heiß es wird!« rief Jane.
»Pscht, er kommt!« sagte Orion.
»Wer?« flüsterte Michael.
»Der Zirkusdirektor!«
Orion wies mit einer Kopfbewegung nach dem Eingang. Dort erschien jetzt ein gleißendes Licht, das an Helligkeit die Sternbilder überstrahlte. Immer stärker wurde sein Leuchten.
»Da ist er!« Orions Stimme klang merkwürdig sanft.
Bei seinen Worten tauchte zwischen den Vorhängen eine hochragende, goldene Gestalt auf, das volle, strahlende Antlitz von flammenden Lokken umrahmt. Gleichzeitig drang eine Welle warmer Luft in die Manege, die sich kreisförmig immer weiter ausbreitete. Halb unbewußt, von der Hitze ganz benommen, schlüpften die Kinder aus ihren Mänteln.
Orion sprang auf die Füße und hielt die rechte Hand hoch über den Kopf.
»Heil, Sonne, heil!« rief er. Und von den Sternenrängen widerhallte der Ruf: »Heil!«
Die Sonne blickte sich in dem weiten, dunklen Ringzelt um und schwang als Antwort auf die Begrüßung dreimal eine lange, goldene Peitsche um ihr Haupt. Als die Schnur so durch die Luft sauste, gab es ein scharfes, schnelles Klatschen. Mit einem Satz sprangen die Kometen auf und trabten hinaus; ihre golddurchflochtenen Schwänze schwangen eifrig hin und her, und sie reckten stolz ihre federgeschmückten Köpfe.
»Da bin ich wieder, da bin ich wieder!« krähte laut eine heisere Stimme, und in die Manege hüpfte ein komisches Wesen mit silbern bemaltem Gesicht, einem breiten, roten Mund und einer silbernen Halskrause.
»Saturn — der Clown!« flüsterte Orion hinter der Hand den Kindern
zu.
»Wann ist eine Tür keine Tür?« fragte der Clown ins Publikum, schlug einen Purzelbaum und endete im Handstand.
»Wenn sie offensteht!« antworteten Jane und Michael laut.
Ein enttäuschter Ausdruck malte sich auf dem Gesicht des Clowns.
»Ach, den kennt ihr schon?« sagte er vorwurfsvoll. »Das ist aber unfair!«
Die Sonne klatschte mit ihrer Peitsche.
»Schon gut, schon gut«, sagte der Clown. »Ich weiß noch was anderes: Warum rennt eine Henne über die Straße?« fragte er und setzte sich mit einem Plumps in den Sternenstaub.
»Um auf die andere Seite zu kommen!« riefen Jane und Michael.
Die geschwungene Peitschenschnur ringelte sich dem Clown um die Knie.
»Oh — oh — oh! Mach das nicht! Du tust dem armen Jockel ja weh! Guck! wie sie mich alle auslachen! Aber die kriege ich schon! Hört zu!« Er wirbelte in einem doppelten Salto durch die Luft.
»Welches ist der kälteste Vogel? Wer weiß das?«
»Der Zeisig — er ist hinten eisig!« schrien Michael und Jane gellend.
»Hinaus mit dir!« rief die Sonne, und ihre Peitschenschnur ringelte sich um die Schultern des Clowns; dieser schlug Purzelbäume rund um die Manege und schrie:
»Ich armer Jockel! Wieder umsonst! Die kennen meine schönsten Witze, ach, ich armer Kerl, ich armer, alter . . . Ach, Verzeihung, Miß, Verzeihung!« Er brach ab, denn er war gegen Pegasus, das geflügelte Pferd, geprallt, das soeben hereingesprengt kam, eine leuchtend flimmernde Gestalt auf dem Rücken.
»Venus, der Abendstern«, erklärte Orion.
Atemlos sahen Jane und Michael zu, wie die flimmernde Gestalt leicht durch die Manege ritt. Eine Runde um die andere ritt sie, sich vor der Sonne verbeugend, sooft sie an ihr vorbeikam, bis schließlich die Sonne ihr in den Weg trat und einen großen, mit Goldpapier zugeklebten Reifen hochhielt.
Eine Sekunde lang balancierte Venus auf den Zehenspitzen. »Hopp!« sagte die Sonne, und mit unnachahmlicher Grazie sprang Venus durch den Reifen und landete wieder auf dem Pferderücken.
»Hurra!« schrien Jane und Michael, und das Sternenpublikum stimmte mit ein in den Ruf. »Hurra!«
»Laß mich's noch einmal versuchen, laß den armen Jockel noch einen Witz machen, just einen, der selbst eine Katze zum Lachen bringt!« schrie der Clown. Aber Venus schüttelte nur lachend den Kopf und ritt aus der Manege.
Kaum war sie verschwunden, da kamen die drei Böcklein hereinspaziert; sie wirkten ziemlich scheu und verbeugten sich unbeholfen vor der Sonne. Dann stellten sie sich in einer Reihe vor ihr auf die Hinterbeine und sangen in hohen, dünnen Tönen folgendes Lied:
»Horn und Huf, Huf und Horn, In jeder Nacht
Werden drei Böcklein gebor'n.
Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.
Blau und schwarz,
Schwarz und blau
Ist es am Abend,
Wenn ich die Böcklein erschau.
Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.
Mild und süß,
Süß und mild
Mundet die Milch,
D i e a u s d e r Milchstraße quillt.
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