Michael staunte sie an.
»Aber — ich verstehe nicht. . .«, begann er.
Ein fröhliches, glitzerndes Gekicher klang auf.
»Das passiert dir wohl öfters?« sagte der Stern.
»Meinst du wirklich, wir sollen mitkommen?« fragte Jane.
»Natürlich! Und zieht euch warm an. Es ist kalt draußen!«
Sie sprangen aus den Betten und rannten zu ihren Mänteln.
»Habt ihr Geld?« fragte die Sternschnuppe kurz.
»In meiner Manteltasche hab ich zwei Pence«, sagte Jane unsicher.
»Kupferstücke? Die nützen euch nichts. Hier, fangt!« Und mit leisem Zischen, wie eine Wunderkerze, die abbrennt, begann die Sternschnuppe
Funken zu sprühen. Zwei dieser Funken flogen durchs Zimmer und landeten einer in Janes und einer in Michaels Hand.
»Beeilt euch, oder wir kommen zu spät!«
Die Sternschnuppe fuhr durchs Zimmer, durch die geschlossene Tür und die Treppe hinunter, gefolgt von Jane und Michael, die ihr glitzerndes Geld fest in der geballten Faust hielten.
»Ob das ein Traum ist, möchte ich wissen«, sagte Jane zu sich selbst, als sie über den Kirschbaumweg eilten.
»Folgt mir!« rief der Stern, als er sich am Ende der Straße, dort, wo der frostige Himmel das Pflaster zu berühren schien, in die Luft schwang und verschwand.
»Folgt mir! Folgt mir!« kam die Stimme irgendwoher aus dem Himmel. »Tretet auf einen Stern! Wollt ihr mit, so wagt den Schritt!«
Jane ergriff Michael bei der Hand und hob unentschlossen den Fuß. Zu ihrer Überraschung fand sie, daß der unterste Stern am Himmel ganz leicht zu erreichen war. Vorsichtig balancierend stieg sie hinauf. Der Stern schien fest und tragfähig.
»Komm, Michael!«
Sie eilten an dem frostklaren Himmel empor, wobei sie größere Zwischenräume übersprangen.
»Folgt mir!« rief die Stimme weit voraus. Jane machte halt und blickte hinunter; es verschlug ihr den Atem, als sie sah, wie hoch sie schon waren. Der Kirschbaum weg, ja die ganze Welt wirkte wie eine kleine, glitzernde Christbaumkugel.
»Wird dir schwindlig, Michael?« fragte sie und sprang auf einen großen flachen Stern hinüber.
»Nmm — nein, nicht, wenn du mich festhältst.«
Wieder machten sie halt. Hinter ihnen führte die große Sternentreppe zur Erde nieder, aber vor ihnen war nichts mehr zu sehen, nichts als ein dicker, blauer Fleck nackten Himmels.
Michaels Hand zitterte in der Janes.
»Www — was machen wir jetzt?« sagte er und versuchte, den Schrek-ken in seiner Stimme nicht merken zu lassen.
»Weitergehen! Weitergehen! Immer heran, meine Herrschaften! Schaut her, was wir zu bieten haben! Zahlt euer Eintrittsgeld und trefft eure Wahl! Der doppelschwänzige Drache oder das geflügelte Pferd! Magische Wunder! Wunder des Weltalls! Weitergehen! Weitergehen!«
Eine laute Stimme schien ihnen unmittelbar in die Ohren zu brüllen. Sie blickten verdutzt rundum. Es war niemand zu sehen.
»Immer 'ran, meine Herrschaften! Laßt euch den goldenen Stier und den komischen Clown nicht entgehen! Die Vorstellung der weltberühmten Sternbildertruppe! Einmal gesehen und nie wieder vergessen! Schiebt den Vorhang zur Seite und tretet ein!«
Wieder erklang die Stimme dicht neben ihnen. Jane streckte die Hand aus. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, daß das, was sie für einen leeren Sternenlosen Fleck Himmel gehalten hatten, in Wirklichkeit ein dicker dunkler Vorhang war. Sie drückte dagegen und fühlte, wie er nachgab; sie griff in eine Falte und, Michael hinter sich her ziehend, schob den Vorhang zur Seite.
Ein starker Lichtstrahl blendete sie für einen Augenblick. Als sie wieder sehen konnte, entdeckten sie, daß sie am Rande einer mit leuchtendem Sand bestreuten Manege standen. Der große blaue Vorhang hüllte die Manege von allen Seiten ein und war in der Mitte zu einer Spitze hochgezogen wie bei einem Zelt.
»Na also! Wißt ihr, daß ihr fast zu spät gekommen wärt? Habt ihr schon Eintrittskarten?«
Sie fuhren herum. Neben ihnen — sein leuchtender Fuß glitzerte im Sand — stand ein seltsamer, mächtiger Riese. Er sah aus wie ein Jäger, denn er trug ein sternengeflecktes Leopardenfell über der Schulter und an seinem mit drei großen Sternen geschmückten Gürtel ein Schwert.
»Die Eintrittskarten, bitte!« Er streckte die Hand aus.
»Ich fürchte, wir haben keine. Wissen Sie, wir wußten nicht. . .«, begann Jane.
»Oje, oje, wie unvorsichtig! Kann euch ohne Eintrittskarten leider nicht hineinlassen. Aber was habt ihr denn da in der Hand?«
Jane hielt ihm den goldenen Funken hin.
»Na, wenn das keine Eintrittskarte ist!« Er drückte den Funken zwischen die drei großen Sterne. »Noch ein Glanzstück für Orions Gürtel!« bemerkte er vergnügt.
»Bist du das?« sagte Jane und starrte ihn an.
»Natürlich — wußtest du das nicht? Aber — entschuldigt mich jetzt, ich muß auf die Tür aufpassen. Geht weiter, bitte.«
Die Kinder, die sich ziemlich gehemmt fühlten, gingen Hand in Hand weiter. Zu Rängen geordnet, stiegen rechts die Sitzreihen an, während links ein goldenes Seil den Gang von der Manege trennte. Dort stießen und drängten sich die seltsamsten Tiere; alle schimmerten wie pures Gold. Ein Pferd mit großen goldenen Flügeln tänzelte auf glitzernden Hufen vorbei. Ein goldener Fisch wirbelte mit einer Flosse den Manegensand auf. Drei kleine Böcklein sprangen mutwillig umher, auf zwei Beinen statt auf allen vieren. Und als Jane und Michael genauer hinsahen, kam es ihnen vor, als wären all die Tiere aus Sternen gemacht. Die Flügel des Pferdes bestanden aus Sternen, nicht aus Federn, die drei Böcklein hatten einen Stern auf der Nase und am Schwanz, und der Fisch war mit sternglitzernden Schuppen bedeckt.
»Guten Abend!« sagte er und verbeugte sich im Vorbeistolzieren höflich vor Jane.
»Ein schöner Abend für die Vorstellung!«
Noch ehe Jane antworten konnte, war er schon weg.
»Das ist aber seltsam«, sagte sie. »Solche Tiere hab ich noch nie gesehen!«
»Wieso seltsam?« sagte hinter ihnen eine Stimme.
Zwei Kinder, beides Knaben, ein wenig älter als Jane, standen da und lächelten. Sie waren in schimmernde Kittel gekleidet, und von ihren spitzen Kappen baumelte statt einer Quaste ein Stern.
»Entschuldigt«, sagte Jane höflich. »Aber, wißt ihr, wir sind an — an Pelze und Federn gewöhnt, und diese Tiere sehen aus, als wären sie aus Sternen gemacht.«
»Aber das sind sie ja auch!« sagte der erste Junge mit weit aufgerissenen Augen. »Woraus denn sonst? Es sind die Sternbilder!«
»Aber selbst das Sägemehl ist Gold . . .«, begann Michael.
Der zweite Junge lachte auf. »Sternenstaub, meinst du wohl! Warst du noch nie in einem Zirkus?«
»In so einem nicht.«
»Ein Zirkus ist wie der andere«, sagte der erste Junge. »Unsere Tiere leuchten mehr, das ist alles.«
»Doch wer seid ihr?« fragte Michael.
»Die Zwillinge. Das da ist Pullux, und ich bin Cator. Wir sind unzertrennlich.«
»Wie die siamesischen Zwillinge?«
»Ja. Doch in weit höherem Maß. Die siamesischen Zwillinge hängen nur körperlich aneinander, wir aber sind ein Herz und eine Seele. Wir denken einer des anderen Gedanken und träumen einer des anderen Träume. Aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben und schwätzen. Wir müssen uns fertigmachen — wir sehen uns später noch!«
Die Zwillinge rannten weg und verschwanden durch einen Spalt im Vorhang.
»Hallo!« klang eine düstere Stimme mitten aus der Manege. »Ihr habt wohl nicht zufällig ein Korinthenbrötchen in der Tasche?«
Ein Drache mit zwei großen Schuppenschwänzen kam auf sie zu und stieß Dampf aus den Nüstern.
»Leider nicht«, sagte Jane.
»Auch keine Kekse?« fragte der Drache ärgerlich.
Sie schüttelten die Köpfe.
»Das dachte ich mir«, sagte der Drache und vergoß eine goldene Träne.
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