Die Zwerge hatten einen Augenblick abgewartet, an dem der Erzieher Ruf allein ließ, und ihn dann mit Naschwerk aus der Höhle gelockt. Als Bilan sie unterwegs fragte, wohin man ihn führe und was man mit ihm vorhabe, gaben sie keine Antwort.
Beim Anblick der Riesin lief es ihm eiskalt über den Rücken.
»Also hat man vor dir verheimlicht, daß du einst eine sehr hohe Stellung in deinem Heimatland einnahmst?« fragte die Hexe mit einem tückischen Lächeln.
»Davon weiß ich nichts, Herrin«, antwortete Ruf unterwürfig, doch seinen Augen konnte man ablesen, daß sich in ihm ein Gefühl des Stolzes regte.
Der scharfsinnigen Arachna entging es nicht, welchen Eindruck ihre Worte auf ihn machten, und im nächsten Augenblick war ihr Plan reif.
»Kastaglio!« rief sie, »nimm den Mann zu dir und bringe ihm das Lesen bei. Gib ihm die Chronik und laß ihn darin lesen, was über sein Leben und seine Taten geschrieben steht. Sobald er sich an seine Vergangenheit erinnert, bringst du ihn wieder her.«
Der Chronist verstand ausgezeichnet, was seine Herrin wollte.
Zwei Wochen später führte er ihr Bilan wieder vor.
Der Gesichtsausdruck und die Haltung des ehemaligen Staatsministers hatten sich völlig verändert. Er hielt sich aufrecht, und sein Schritt war fest. Das Gedächtnis hatte alle Einzelheiten seines früheren Lebens wiedererstehen lassen. Er wollte nun alles von vorn beginnen, wenn sich ihm nur die Möglichkeit dazu bot. Bilan war nicht mehr das schwache und hilflose Kind, das die Zwerge aus der Höhle geführt hatten. Vor Arachna stand jetzt ein erwachsener Mann, ein Streber und Ränkeschmied, der vor keinem Verrat zurückscheuen würde. Die Schlauheit Arachnas hatte in Ruf Bilan die schlimmsten Eigenschaften wiedererweckt.
Die Hexe erwiderte Bilans Verbeugung mit einem kaum merklichen Nicken und sprach:
»Du möchtest doch wissen, warum ich dich gerufen habe?«
»Ja, Herrin. Doch darf ich vorher eine Frage stellen?«
»Sprich!«
»Wer war der Mann, den ich vor zwei Wochen in Eurem Besitztum sah?«
»Das war Urfin Juice, der ehemalige König des Smaragdenlandes.«
»Deshalb kam mir sein Gesicht so bekannt vor! Ich war unter ihm der erste Mann im Staat!« brüstete sich Bilan.
»Du kannst wieder hoch aufsteigen, wenn du in meine Dienste trittst! Ich bin viel mächtiger als Juice, wenngleich sein Mut mir gefällt. Schade, daß sein Mißgeschick ihn gebrochen und er sich mit seinem Schicksal abgefunden hat!«
Arachna weihte Ruf in ihre Pläne ein. Sie erzählte von ihrer Absicht, das Zauberland zu unterwerfen und sich zu dessen Kaiserin ausrufen zu lassen, und schloß mit den Worten:
»Willst du mir helfen?«
»Gnädige Frau, ich bin bereit, Euch nach Kräften zu dienen!« rief Bilan begeistert.
»Meinst du, mein Wunsch wird in Erfüllung gehen?«
»Ohne Zweifel! Die Völker des Zauberlandes werden glücklich sein, sich einer so mächtigen Gebieterin zu unterwerfen!«
»Bist du davon überzeugt?« zweifelte die Hexe.
»Ich bin bereit, mein Leben dafür hinzugeben.«
»Dein ehemaliger König ist anderer Ansicht.«
»Er irrt, gnädige Herrin, er irrt, und davon werdet Ihr Euch bald überzeugen.«
»Gut, Ruf Bilan, ich nehme dich in meine Dienste. Du sollst mein Botschafter in wichtigen Angelegenheiten sein, und wenn du dich auszeichnest, bekommst du ein noch höheres Amt!«
Rufs Gesicht strahlte vor Freude, er scharwenzelte vor Arachna und versicherte sie seiner grenzenlosen Ergebenheit.
»Geh jetzt!« sagte die Hexe, und Ruf verließ im Krebsgang mit unzähligen Bücklingen die Höhle.
»Ein Strolch und Speichellecker!« sagte die Hexe verächtlich. »Bei der erstbesten Gelegenheit wird er mich ebenso leicht verraten, wie er in meine Dienste getreten ist. Aber leider habe ich keine andere Wahl…«
Unter dem Hexenzubehör Arachnas befand sich ein fliegender Teppich, den sie ihrer Mutter geklaut hatte, als sie ins Zauberland floh. Das war ein alter und zerfranster Teppich, der nur dank der Sorge der Zwerge dem Schimmel und Mottenfraß nicht zum Opfer gefallen war. Die winzigen Menschlein hatten ihn jeden Monat gebürstet, ausgeklopft, in der Sonne getrocknet und gestopft, und als die Hexe erwachte, war er immer noch brauchbar.
Um ihre Pläne auszuführen, beschloß Arachna der Reihe nach alle Gebiete des Zauberlandes anzufliegen, um nach dem Rechten zu sehen und von den Einwohnern die Anerkennung ihrer obersten Macht zu fordern.
Als es soweit war, breitete sie den Teppich aus, ließ sich auf ihn nieder und setzte Ruf Bilan neben sich, den sie bei den Verhandlungen mit den voraussichtlichen Untertanen als Unterhändler verwenden wollte.
»Teppich, Teppich, trag mich in das Rosa Land zur Zauberin Stella!« befahl die Hexe.
Als der Teppich aufflog, erblaßte Bilan und fing zu stöhnen an.
»Was hast du?« fragte Arachna trocken.
»Gnädige Herrin, ich beschwöre Euch bei allem, was Euch heilig ist, fordert die Zauberin Stella nicht heraus!«
»Warum nicht? Meinst du vielleicht, sie sei stärker als ich?«
»Ich zweifle nicht an Eurer Kraft, Herrin, doch wißt Ihr, daß Stella das Geheimnis der ewigen Jugend kennt?«
»Was geht mich das an, wo ich doch schon so viele tausend Jahre alt bin, daß ich gar nicht mehr weiß, wie viele es sind!« erwiderte Arachna hochmütig.
»Gut, Herrin, dann wollen wir nicht vom Alter reden«, sagte Ruf Bilan. »Doch Frau Stella steht sich sehr gut mit dem mächtigen Stamm der Fliegenden Affen. Wenn ein Rudel dieser schrecklichen Tiere über Euch herfällt, bürge ich nicht für Euren Sieg, wie stark und mutig Ihr auch sein möget.«
Die Hexe stutzte. Auf ihren Befehl hielt der Teppich in seinem Flug inne und hing reglos in der Luft.
»Ich habe schon einmal von den Fliegenden Affen gehört«, sagte Arachna. »Vielleicht ist es wirklich ratsamer, diesen Tieren aus dem Wege zu gehen. Was meinst du, sollen wir uns lieber zu Willina begeben und von ihr die Anerkennung meiner uneingeschränkten Macht verlangen?«
»Laßt doch ab von diesen Feen«, flehte Bilan. »Ihr seid selbst eine Fee und wißt, verzeiht mir die Offenheit, nur zu gut, was das für ein widerliches Volk ist! Freilich ist Frau Willina alt, doch sie besitzt die Zaubergabe, den Ort ihres Aufenthalts blitzschnell zu wechseln. Jetzt ist sie da, und eine Sekunde später ist sie tausend Meilen weit von hier. Wie wollt Ihr einen Feind besiegen, den man nicht fassen kann?«
»Hast wohl recht«, mußte Arachna zugeben. »Meinetwegen lassen wir die Feen in Ruhe. Außer ihnen gibt es im Zauberland doch auch noch andere Völker und Gebiete. Ich habe in Kastaglios Chronik von den Marranen gelesen, die das rückständigste Volk in diesem Landstrich sein sollen. Vielleicht fangen wir bei den Marranen an. Was meinst du, Bilan?«
»Bei den Marranen, ja, bei den Marranen, Herrin!« rief Bilan erfreut. Weil er in den letzten Jahren in der Höhle geschlafen hatte, wußte er nichts von den Ereignissen, die sich im Lande der Marranen abgespielt hatten, und die Kapitel der Chronik, die darüber berichteten, hatte er auch nicht gelesen.
Arachna befahl dem Zauberteppich, sie in das Marranental zu tragen. Nach mehreren Flugstunden ging der Teppich auf einem der Berge nieder, die um dieses Land einen Ring bildeten.
Im Marranental hatte sich nach der Vertreibung des Feuergotts Urfin vieles verändert. Die Springer hatten eine echte Revolution durchgeführt, die Aristokraten gestürzt und aufgehört, für sie zu arbeiten. Anstelle der früheren erbärmlichen Strohhütten, in denen das einfache Volk gelebt hatte, standen jetzt kleine, aber warme und gemütliche Häuser, die schnurgerade lange Straßen bildeten. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, der davon zeugte, daß die Marranen ihre alte Furcht vor dem Feuer überwunden und es zu nutzen gelernt hatten.
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