»Suchst du jemanden?« fragte Rick vorsichtig.
»Ich hab gehört, hier sollen ein paar Leute vorbeikommen.« Er sah Rick unter seinen buschigen Brauen hervor durchdringend an. »Eine Hexe oder vielleicht zwei, und so etwas wie ein Schwebender Kilt. Unterwegs wegen einem Geisterasyl.«
»Ja, sie sind hier«, gab Rick zu.
Jetzt konnten die Geister es nicht länger aushalten. Einer nach dem anderen erschienen sie und versammelten sich um Walter den Nassen, der unter Niesen einen Wasserfloh aus seiner Nase beförderte.
»Seht euch das an«, sagte er und hob ihn auf. »Tot, vergiftet, genau wie der Fisch. Schaut euch bloß mein Geisterplasma an.« Er streckte einen nackten Arm aus und spannte die Muskeln, die weiß und weich wie Grieß aussahen.
»Schlimm«, ließ sich Tante Hortensia vernehmen. Sie reckte ihren Halsstumpf vor, damit alle erkennen konnten, daß der auch in schlechtem Zustand war.
»Seit dreitausend Jahren lebe ich in diesem Fluß«, sagte Walter der Nasse. »Ich erinnere mich, wie die Römer den Hadrianswall gebaut haben. Hunderte von ihnen habe ich im Fluß ersäuft, wie es sich für einen Flußgeist gehört. Pikten und Schotten habe ich ertränkt. Grenzreiter habe ich in den Wahnsinn getrieben, wenn ich mich in dunklen Nächten mit wild flatternden Haaren zeigte. Schrecklich konnte ich sein und dann wieder weich wie Butter. Es gab nichts Sanfteres als mich nördlich der Themse. Aber jetzt, sage ich euch, ist dieser Fluß am Ende.«
»Was stimmt denn nicht mit ihm, Mr. Walter der Nasse?« wollte Humphrey wissen.
»Was nicht mit ihm stimmt? Nichts stimmt mehr. Abwässer. Abfallschlamm von der Zementfabrik. Öl von den Schiffen. Chemikalien aus den Düngemittelwerken. Da, seht euch meine Mandeln an.« Er öffnete den Mund, ließ einen Schwall schmutzigbraunen Wassers heraus, und alle sahen ihm nacheinander in den Hals.
»Stark geschwollen«, stellte die Hexe fest und schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, in der linken steckt ein Glassplitter«, meinte Winifred besorgt.
»Glas. Rostige Nägel, Stiefel. Ich sage euch, der Grund des Flusses ist wie ein großer Abfallhaufen. Und tote Fische. Neulich bin ich abends im Flußbett eingeschlafen, und am nächsten Morgen lag eine Tonne toter Fische auf mir, so schnell sind sie eingegangen. Es ist abscheulich. Wißt ihr, was ich jetzt mache, wenn ein Matrose von einem der Tanker über Bord fällt? Ich bleibe liegen und schlafe weiter. Ich brauche ihn nicht in die Irre zu locken, damit er ertrinkt. Er braucht nur einen Schluck von dem Flußwasser zu trinken, und er ist vergiftet. Oder er zerschneidet sich den Hals an einem alten Ölkanister. Ich kann sicher sein, am Morgen ist er da, wo die Fische sind. Zwischen all dem alten Gerümpel und mausetot.«
Rick fand das alles schrecklich. Es war wie bei den Walen und Pinguinen. »Die armen Fische«, sagte er. »Und was ist mit mir?« rief der Flußgeist. »Ich denke an mich. Ich kann nicht mehr in diesem Fluß leben. Jetzt bauen sie einen Tunnel, um eine Straße unten durchzuführen. Die ganze Nacht hört man Baumaschinen kreischen. Nein, es hat keinen Zweck, ihr müßt mich in euer Asyl mitnehmen.«
Alle tauschten Blicke. »Würdest du auf der Reise denn nicht austrocknen?« gab Rick zu bedenken. »Wenn ich kann, werde ich untertauchen.« Dabei warf Walter einen schnellen Blick auf Winifreds Wasserschale.
Erschrocken trat Winifred einen Schritt zurück. Sie war das netteste Mädchen, das man sich denken konnte, aber ihre Schale war nur dafür da, um ihre Blutflecken auszuwaschen.
Rick runzelte die Stirn. Wenn Walter der Nasse mitkam, mußte man einen Ort finden, wo es einen Fluß oder See gab. Es sah aus, als müßte das Asyl ziemlich groß sein. Rick konnte nur hoffen, daß der Premierminister nett und verständnisvoll war. Andererseits konnte man nicht von einem Asyl sprechen, wenn Asylsuchende ausgeschlossen wurden.
»Ich fürchte, wir haben keinen Platz in der Kutsche«, wandte Tante Hortensia ein. »Selbst wenn mein Stumpf die Feuchtigkeit vertragen würde. Was ich allerdings bezweifle.«
Walter schüttelte Wassertropfen von seinem Rükken und sagte: »Ihr wollt doch nach London, also nach Süden, oder? Der Fluß fließt nach Süden. Nehmt ein Schiff. Vielleicht einen Kohleschlepper.«
»Ein Schiff«, schrie Humphrey der Schreckliche. »Ach, ein Schiff wäre wunderbar!«
»Willst du damit sagen, daß man mit der Kutsche auf ein Schiff fahren müßte?« erkundigte sich Tante Hortensia.
»Ja, das könnte sein. Ein großer Schlepper legt hier gegen zwölf Uhr ab und bringt Kohle nach Porchester. Die Männer legen an der Landungsbrücke dort drüben an und gehen im Pub auf dem Hügel ein Bier trinken. Der Junge kann dann an Bord gehen und sich verstecken, und für uns ist es ja sowieso kein Problem.«
Walter der Nasse hatte recht. Kurz nach zwölf kam ein langer, flacher Kohleschlepper den Fluß heraufgetuckert und legte am Kai unter der Brücke an. Die Besatzung bestand aus zwei Männern, einem kleinen Dünnen mit Bart und einem großen Breitschultrigen, der George in Aufregung versetzte, weil er ein Bild mit einem Schädel und gekreuzten Knochen auf seinen Oberarm tätowiert hatte.
»Das bin ich!« schrie George immer wieder. »Ich bin es, es ist ein Bild von mir!«
Als der Schlepper sicher am Kai lag und die Männer sich auf den Weg zur Schifferkneipe oben auf dem Hügel gemacht hatten, sprang Rick an Bord. Er fand einen alten Sack, grub eine Höhle in den Kohlehaufen und schlüpfte hinein. Als er sich gerade die Haare mit Kohlenstaub schwarz machte, hörte er eine Stimme neben sich. »Bitte, darf ich auch mit in die Kohlen kommen?« Mit einem glücklichen Seufzer schmiegte sich Humphrey der Schreckliche an Rick.
Die Flußfahrt fanden alle wunderschön. Es hatte aufgehört zu regnen, ein leichter Wind blies über das Wasser, und die Stadt lag bald hinter ihnen. Auf einem Schiff zu reisen ist etwas sehr Friedliches. Kühe stehen am Ufer und sehen einen an, kleine Jungen winken von den Brücken, alte Damen radeln am Ufer entlang. Allmählich hörte Rick auf, sich Gedanken darüber zu machen, was er dem Premierminister sagen sollte, wenn er ihn je zu Gesicht bekam. Es war nicht allzu gemütlich in dem Kohlehaufen, aus dem nur seine Augen heraussahen. Er schaute auf die Weidenbäume und die Enten und konnte nicht begreifen, daß man so einen idyllischen Fluß mit Abwässern und Chemikalien und anderem Schmutz vergiften konnte.
Abends legte der Schlepper in Lonsdale an, und sobald die Männer das Schiff vertäut und sich in ihre Kabine begeben hatten, um sich ein Bier zu genehmigen, krabbelte Rick aus seinem Versteck. Es hatte keinen Sinn, noch länger an Bord zu bleiben, denn der Fluß floß von jetzt an in westlicher Richtung weiter, während sie nach Süden durch das Saughbeckmoor wollten.
Es war zu spät, um auf Autos oder Busse zu warten, sie mußten zu Fuß weitergehen. Sie gingen eine Stunde, dann wurden es zwei ... Es war eine mondlose Nacht mit kaltem Wind. Rick, der nur ein paar Sandwiches gegessen hatte, wurde sehr müde und hungrig. Neben ihm ging stetig tropfend Walter der Nasse und erzählte von all den vielen Seeleuten, die er ins nasse Grab befördert hatte. Als er bei Nummer dreiundzwanzig, einem Wikingerpiraten namens Knut mit der Knute, angelangt war, sank Rick der Kopf auf die Brust. Er ging fast wie im Schlaf.
Die freundliche Hexe hatte gerade die Kutschentür über Rick geöffnet und sah, wie müde er war. Sie ordnete deshalb eine Pause an. Sie fanden ein Wäldchen in einer Senke, wo der Wind nicht so stark blies. Ein Bach floß hier, Farnkräuter und Moos wuchsen an seinem Ufer und ein sehr glitschiger Pilz, eine Stinkmorchel, der die Hexe direkt neidisch machte, weil er noch schlimmer roch als sie.
Viele Zweige lagen herum, und Rick machte ein Feuer, wobei er darauf achtete, daß er die Bäume nicht ankokelte. Dann halfen ihm die Geister, aus Blättern ein Bett zu machen. Obendrauf legte er seinen Anorak. Sobald er sich hingelegt hatte, kam natürlich Humphrey der Schreckliche und rollte sich neben ihm ein. Danach legte sich der Schack auf ihre Füße.
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