DER PAKT
Man mag sich wundern, daß Arachna nicht mehr an das Zauberland, an das Mädchen Ah, den Tiger und alles andere dachte, aber da sie in ihre Vergangenheit, in die Zeit ihrer Jugend zurückgekehrt war, hatte sie das Geschehen der späteren Zeit völlig vergessen. Besser gesagt, es war in ihrem Hirn ausgelöscht worden.
»Seltsam«, murmelte die Riesin, »kein Mensch weit und breit! Und doch wärmt mich dieses Feuer, standen Wasser und Fleisch bereit. Oder galt der Empfang jemand anderem? Aber wem – so viele Leute gibt es hier nicht. Außer Karena leben im Land eigentlich nur noch die Zwerge.«
Die Zwerge, natürlich, erst vorhin waren sie ihr ja wieder im Traum erschienen. Bestimmt trieben sich einige auch in dieser Wildnis herum. Andererseits, was hatte Arachna ihnen schon Gutes getan, für das sie sich hätten erkenntlich zeigen müssen. Eigentlich gar nichts Gutes bisher, wenn man ehrlich war. Trotzdem, irgendeinen Zusammenhang mußte es hier geben. Und aufmerksam begann die Riesin ihre nähere Umgebung abzusuchen.
Wer sucht, der findet. Zunächst stieß Arachna auf ein Blatt Papier, das jemand ziemlich dicht vor ihrer Nase auf einen Ast gespießt hatte. Sie brauchte nur den Arm auszustrecken, und schon hatte sie es in der Hand. Eine Botschaft, die vielleicht Licht in das Dunkel brachte. Etwas mühsam entzifferte sie die Worte auf dem zerknitterten Zettel, die eigentlich Karena galten.
Die Riesin zog die Stirn in Falten, überlegte fieberhaft. Sie begriff nicht alles, was in der Botschaft stand, doch eins war klar: Die Zwerge hatten ihrer Mutter den Kampf angesagt!
Diese Wichte müssen in der Nähe sein, sagte sich Arachna gleich darauf, sie beobachten mich. Ob sie sich wirklich ernsthaft mit meiner Mutter anlegen wollen? Das ist lächerlich, Karena wird sie zerquetschen. Andererseits sind es viele, und wir sind auf sie angewiesen.
Sie hielt den Zettel unschlüssig in den Händen. Mit ihrer Mutter war zwar nicht gut Kirschen essen, dennoch schien die Gelegenheit günstig, sich bei diesen Leutchen Ansehen zu verschaffen. Sie rief:
»Was wollt ihr? Ich hab nichts gegen euch.«
Arachna erwartete, daß sich die Zwerge zeigten, aber nichts dergleichen geschah.
»Kommt heraus, damit wir miteinander reden können«, sagte sie. »Ich schwöre, euch nichts zu tun!«
Doch auch diesmal passierte nichts, und die Riesin wollte bereits ungehalten werden, als ihr die letzten Worte der Botschaft an Karena wieder einfielen. Ganz schön hartnäckig, dachte sie, diese Bande will wahrscheinlich auch von mir den Großen Riesenschwur.
»Also gut, ihr sollt euren Willen haben! Hiermit leiste ich den Großen Riesenschwur, euch gegenüber fair zu sein und euch anständig zu behandeln. Bei meinen Vorfahren! Sollte ich ihn je brechen, will ich in ewigen Schlaf verfallen!«
Sie erhob sich der Feierlichkeit wegen zu voller Größe und kam sich in diesem Augenblick sehr edel vor. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie den Großen Schwur, den jeder Riese von Kindesbeinen an kennt, zum letztenmal gesprochen hatte.
Kaum war das letzte Wort verklungen, stand plötzlich ein winziges Männlein vor ihr. Der Zwerg mußte aus den Büschen gekommen sein, die sich noch leicht bewegten. Er rief, so laut er konnte:
»Ich bin Arkado, der Schloßjäger. Es freut mich, daß wir uns verständigen können.«
»Habt ihr mir das leckere Fleisch und die Wasserschläuche hingelegt?«
»Ich war es«, sagte Arkado stolz. »Es hat mich einige Arbeit gekostet, aber ich sah, daß es Euch nicht besonders gut ging und daß Ihr eine Stärkung gebrauchen konntet.«
»Das kann man wohl behaupten«, brummte Arachna und wunderte sich, es nur mit einem der Zwerge zu tun zu haben. Sie wußte ja nichts von dem Gelben Nebel und der Flucht der anderen Taureker in die Wassermühle.
Arkado, der begriff, daß die Riesin trotz ihres Schwurs noch immer unschlüssig war, wie sie sich verhalten sollte, erzählte ihr nun von den Geschehnissen der letzten Tage.
»Deshalb bin ich allein hier«, schloß er, »Karena aber soll wissen, daß wir Taureker ein stolzes Volk sind. Wir werden lieber sterben, als uns weiter so von ihr demütigen zu lassen.«
»Und was erwartet ihr von mir?«
»Ihr könntet uns in unserem Streit mit Karena helfen.«
»Du weißt nicht, was du von mir verlangst«, erwiderte Arachna, die keine Lust hatte, sich in eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter einzulassen. »Die Alte ist stärker als ich, und den Gelben Nebel, von dem du redest, kann ich auch nicht wegblasen.«
»Aber vielleicht könntet Ihr uns in eine Gegend bringen, wo wir in Frieden leben und wieder frei atmen können. Statt Karena würden wir allezeit Euch dienen.«
Die Riesin überlegte. War es nicht besser, sich trotz allem auf die Seite ihrer Mutter zu schlagen? Trotz des Großen Schwurs?

»Karena besitzt den Fliegenden Teppich und das Zauberbuch«, wandte sie ein.
»Irrtum. Das Zauberbuch haben wir!«
Diese fast beiläufig gegebene Antwort verblüffte Arachna so, daß ihr der Mund offenstand. Gleichzeitig trat ein gieriges Funkeln in ihre Augen. Schließlich wußte sie, was man mit diesem Buch alles anstellen konnte, sie hatte ihre Mutter mehr als einmal beim Zaubern belauscht. Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben konnte man damit auslösen, aber auch Reichtümer in seinen Besitz bringen. Selbst der Fliegende Teppich mußte den Befehlen gehorchen, die im Buch standen.
»Ihr habt wirklich das Zauberbuch an euch gebracht?« fragte die Riesin.
»Gewiß, es ging nicht anders.«
»Dann bring mich zu dem Ort, wo ihr es versteckt habt.«
»Ihr denkt doch an Euren Schwur?« sagte Arkado zögernd.
»Aber ja. Wenn ich das Buch habe, bin ich stärker als Karena und kann euch helfen.«
Der Jäger mußte sich auf ihre Worte verlassen, er vertraute auch darauf, daß Arachna gern selbst die Herrscherin wäre. Und außerdem – er hatte keine Wahl.
Sie zogen los. Der Jäger band erneut ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, dann hob Arachna ihn hoch. Auf ihrer Handfläche sitzend, die Arme um einen ihrer Finger geklammert, konnte er einigermaßen atmen und sie gut dirigieren. Die Riesin selbst dagegen verzichtete auf ein Tuch, sie würde schon nicht gleich an dem Staub ersticken.
DIE TAUREKER WERDEN GERETTET
Für einen Außenstehenden wäre das ein lustiger Anblick gewesen. Arachna bewegte sich mit Riesenschritten vorwärts, bemüht, nicht zu stolpern und Arkados Kommandos zu befolgen. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu dem Jäger hinunter, der sich einerseits festhalten, andererseits auf den Weg achten mußte. Vor lauter Anspannung und von dem vielen Staub tränten beiden die Augen.
Nach einer Stunde hatten sie den Höhleneingang erreicht, der so meisterlich getarnt war, daß weder Karena noch Arachna ihn je entdeckt hätten. Doch selbst wenn sie auf ihn gestoßen wären – es hätte ihnen nichts genutzt. Zum Höhleninneren führte nämlich ein langer Gang, länger als der Arm der Riesen, wenn man ihn bis zur Schulter hineinsteckte. Dahinter erst wurde es weiter, erstreckte sich ein Gewölbe, geräumig wie eines der Zimmer in Karenas Schloß.
Arkado bat die Riesin, ihn vor der Höhle abzusetzen. Arachna ging in die Hocke und legte die Hand auf den Boden, damit der Jäger bequem absteigen konnte. Gleich darauf war er im Gesträuch verschwunden und tauchte in die Höhle ein.

Da die Zwerge zu Beginn ihres Aufstands noch nicht wußten, wie es mit dem Zauberbuch weitergehen würde, hatten sie Pferde und Fuhrwerk im Gewölbe zurückgelassen. Arkado hatte den Tieren Wasser hingestellt und sie mit Heu versorgt, jetzt begrüßten sie ihn freudig wiehernd. Der Futtervorrat war ziemlich zusammengeschmolzen, doch hätten sie es noch eine Weile ausgehalten.
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