Die erste Amphore begann, am Bug vorbeizutreiben. Noch eine Sekunde, und sie wäre außer Reichweite. Trout gab Gas, und das Boot erreichte eine Position oberhalb des Tongefäßes.
»Mach dich bereit!«, brüllte Trout. Der Sprung musste zeitlich und räumlich genau bemessen sein. »Das Ding ist sicherlich glitschig und wird sich drehen. Also sieh zu, dass du seine Henkel erwischst und dich mit Armen und Beinen daran festklammerst.«
Gamay nickte und kletterte in den Bug. »Was ist mit dir?«, fragte sie.
»Ich schnappe mir die nächste.«
»Es wird schwierig, das Boot in Position zu halten.« Sie wusste, dass ohne jemanden, der das Boot lenkte, Trouts Sprung um einiges gefährlicher wäre.
»Ich überleg mir was.«
»Den Teufel wirst du. Ich riskiere es nicht.«
Verdammt, war die Frau stur. »Das ist deine einzige Möglichkeit. Jemand muss sich zu Hause ums Tapezieren kümmern. Bitte! «
Gamay sah ihn beschwörend an, dann schüttelte sie den Kopf und kroch auf den Bugwulst. Sie zog die Beine an und machte sich bereit zum Sprung.
Sie wandte sich um und funkelte ihn wütend an. »Sag endlich, was du willst!«
Trout hatte etwas gesehen, das Gamay entgangen war. Die glatte Wasserwand des Strudels war über ihnen frei von jeglichem Müll. Die Wrackteile, die von dem Strudel aufgewirbelt worden waren, schienen eine unsichtbare Barriere erreicht zu haben, die sie auf ihrem Weg nach oben offenbar nicht überwinden konnten. Die Trümmer rutschten wieder genauso schnell in den Wirbel zurück, wie sie darin aufgestiegen waren.
»Sieh doch«, rief er, »das Treibgut wird wieder nach unten gezogen.«
In Sekundenschnelle erkannte Gamay, dass er Recht hatte. Die Amphore befand sich mit ihnen auf gleicher Höhe und stieg nicht weiter. Trout streckte die Hände aus und zog seine Frau zurück ins Boot. Sie hielten sich an den Sicherheitsleinen fest und konnten nicht mehr tun, als hilflos zuzuschauen, wie ihr Boot unaufhaltsam tiefer in den Abgrund glitt.
Das halbwegs runde Gebilde auf dem Computerbildschirm erinnerte Austin an die Membrane, das Zytoplasma und den Kern einer bösartigen Zelle.
Er wandte sich zu Adler um. »Mit was genau haben wir es hier zu tun, Professor?«
Der Wissenschaftler kratzte sich seinen zottigen Kopf.
»Fragen Sie mich was Leichteres, Kurt. Diese Erscheinung wächst stetig und bewegt sich mit dreißig Knoten im Kreis. Etwas annähernd Ähnliches, was Größe und Geschwindigkeit betrifft, habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Austin. »Ich bin schon auf heftige Strudel gestoßen, die mir richtig Angst eingejagt haben. Aber sie waren vergleichsweise klein und kurzlebig. Dies hier scheint jedoch der Fantasie Edgar Allan Poes oder Jules Vernes entsprungen zu sein.«
»Die Wirbel in Ein Sturz in den Mahlstrom und Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer sind größtenteils literarische Erfindungen. Poe und Verne wurden dabei vom Moskstraumen-Mahlstrom in der Nähe der Lofoten inspiriert. Der griechische Historiker Pytheas schrieb vor mehr als zweitausend Jahren darüber, er verschlinge ganze Schiffe und spucke sie wieder aus. Der schwedische Bischof Olaus Magnus berichtete um 1500, dass der Strudel stärker sei als die Charybdis in der Odyssee und dass der Mahlstrom Schiffe auf den Grund der See schleudere und Wale in sich hineinsauge.«
»Das alles ist doch reine Fiktion. Wie sieht die Realität aus?«
»Weitaus weniger beängstigend. Der norwegische Strudel wurde wissenschaftlich untersucht, und er kommt mit seinen Daten dem mächtigen Wirbel aus der Literatur in keiner Weise nahe. Drei andere bedeutende Strudel, der Corryvreckan in Schottland, der Saltstraumen ebenfalls vor Norwegen und der Naruto bei Japan sind weniger stark.« Er schüttelte den Kopf. »Schon seltsam, einem Strudel auf offenem Meer zu begegnen.«
»Warum?«
»Strudel oder Wirbel kommen gewöhnlich in engen Meeresarmen oder Durchlässen vor, wo man Wassermassen beobachten kann, die sich auffällig schnell bewegen. Durch das Zusammenwirken von Gezeiten und Strömungen sowie der jeweiligen Beschaffenheit des Meeresbodens können Störungen entstehen, die bis zur Wasseroberfläche hinaufreichen.«
Das Bild auf dem Schirm zeigte, wie die Entfernung zwischen dem Wirbel und der Benjamin Franklin stetig schrumpfte. »Könnte dieses Gebilde dem Schiff gefährlich werden?«
»Nicht, wenn man sich auf frühere wissenschaftliche Erkenntnisse stützen kann. Der Old-Sow-Strudel vor der Küste von New Brunswick ist in etwa genauso stark wie der Moskstraumen, der sich mit einer Geschwindigkeit von etwa achtundzwanzig Kilometern in der Stunde bewegt. Er ist der größte ozeanische Wirbel auf der westlichen Halbkugel. Die Turbulenzen in der Nähe des Strudels können kleinen Booten gefährlich werden, jedoch werden größere Schiffe dadurch nicht beeinträchtigt.« Er hielt inne und blickte sichtlich fasziniert auf den Bildschirm. » Verdammt! «
»Was ist los?«
Er starrte auf das Gebilde auf dem Schirm. »Anfangs war ich mir nicht ganz sicher. Aber dieses Ding wächst rasend schnell. In den letzten Minuten hat es seine Größe fast verdoppelt.«
Austin hatte genug gesehen.
»Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun, Professor«, sagte er und verlieh seiner Stimme einen möglichst ruhigen, gelassenen Klang. »Begeben Sie sich umgehend in die Beobachtungszentrale. Bitten Sie Joe, sofort das ROV einzuholen und so bald wie möglich auf die Kommandobrücke zu kommen. Sagen Sie ihm, es sei dringend.«
Adler warf einen letzten Blick auf den Bildschirm und entfernte sich dann eilig. Während der Professor seinen Auftrag ausführte, stieg Austin zur Kommandobrücke hinauf.
Tony Cabral, der Kapitän der Throckmorton, war ein freundlicher Mann Ende fünfzig. Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht wurde von einer markanten Nase beherrscht, er hatte einen Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden, und sein Mund war gewöhnlich zu einem knorrigen Grinsen verzogen, das ihn wie einen freundlichen Piraten aussehen ließ. Im Augenblick war seine Miene jedoch todernst und zeigte plötzlich einen Ausdruck höchster Überraschung, als er Austin erblickte.
»Hey, Kurt, ich wollte Sie gerade suchen lassen.«
»Wir haben ein Problem«, sagte Austin.
»Sie wissen von dem SOS-Ruf, den wir aufgefangen haben?«
»Das höre ich zum ersten Mal. Was ist los?«
»Wir haben vor ein paar Minuten ein Mayday von einem NOAA-Schiff empfangen.«
Damit bestätigten sich Austins schlimmste Befürchtungen. »Wie ist ihre augenblickliche Lage?«
Cabral runzelte die Stirn. »Der größte Teil der Botschaft war verzerrt. Es gab jede Menge Hintergrundgeräusche. Wir haben den Ruf aufgenommen. Vielleicht ergibt er für Sie einen Sinn.«
Er betätigte einen Schalter auf der Funkkonsole. Die Brücke füllte sich mit einer Kakophonie, die klang wie ein Redewettstreit in einem Irrenhaus. Wilde Rufe ertönten, jedoch waren die Worte nicht zu verstehen bis auf eine heisere männliche Stimme, die den Tumult übertönte.
» Mayday! « , sagte die Stimme. »Hier ist das NOAA-Schiff Benjamin Franklin. Mayday. Bitte antworten Sie, wer immer uns hört.«
Eine andere Stimme, noch verzerrter, war im Hintergrund zu hören, wie sie brüllte: » Leistung! Verdammt, mehr Leistung …«
Dann ließ sich ein kurzer Satz vernehmen. Er war nur am Rande zu hören, jedoch reichte er aus, um den Lauschenden das nackte Grauen zu vermitteln.
» Verdammt! Wir stürzen rein!«
Cabrals auf Tonband aufgenommene Antwort folgte. Er beantwortete den SOS-Ruf so gut es ging.
»Hier ist das NUMA-Schiff Throckmorton. Wie ist Ihre Lage? Melden Sie sich. Wie ist Ihre Lage?«
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