Jetzt fühlte ich mich herausgefordert: »Darf ich eine Grammatik der Devianz anregen?«
»Schön, schön!«, riefen beide und machten sich eifrig ans Schreiben.
»Es gäbe da ein Problem«, sagte ich.
»Welches?«
»Wenn Sie das Projekt bekannt machen, wird ein Haufen Leute ernsthafte Publikationen vorlegen.«
»Ich hab's dir doch gleich gesagt, Jacopo, das ist ein helles Bürschchen«, sagte Diotallevi. »Wissen Sie, genau das ist nämlich unser Problem. Ohne es zu wollen, haben wir das ideale Profil eines wirklichen Wissens gezeichnet. Wir haben die Notwendigkeit des Möglichen demonstriert. Infolgedessen müssen wir schweigen. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Wohin?«, fragte Belbo.
»Es ist Freitagnachmittag.«
»O heiliger Jesus!«, rief Belbo. Dann erklärte er mir: »Hier gegenüber gibt es zwei, drei Häuser, in denen orthodoxe Juden wohnen, Sie wissen schon, solche mit schwarzem Hut und Bart und Löckchen. Es gibt nicht viele davon in Mailand. Heute ist Freitag, und bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat. Also fangen sie jetzt drüben an, alles vorzubereiten, die Leuchter zu putzen, die Speisen zu kochen, die Dinge so einzurichten, dass morgen kein Feuer angemacht werden muss. Auch der Fernseher bleibt die ganze Nacht an, nur sind sie gezwungen, vorher den Kanal zu wählen. Unser Freund Diotallevi hat ein kleines Opernglas, mit dem späht er indiskret rüber und träumt davon, er wäre auf der anderen Seite der Straße.«
»Und wieso?«, fragte ich.
»Weil unser guter Diotallevi sich in den Kopf gesetzt hat, er sei Jude.«
»Was heißt in den Kopf gesetzt?« protestierte Diotallevi. » Ich bin Jude. Haben Sie was dagegen, Casaubon?«
»Aber nein, ich bitte Sie!«
»Mein lieber Freund«, sagte Belbo entschieden, »du bist kein Jude.«
»Ach nein? Und mein Name? ›Gott möge dich aufziehen‹ — ein Name wie Diotisalvi, Graziadio, Diosiacontè, alles Übersetzungen aus dem Hebräischen, Gettonamen wie Scholem Alejchem.«
»Diotallevi ist ein Glückwunschname, wie ihn die Standesbeamten den Findelkindern oft gaben. Und dein Großvater war ein Findelkind.«
»Ein jüdisches Findelkind.«
»Diotallevi, du hast hellrosa Haut, eine kehlige Stimme und bist praktisch ein Albino.«
»Es gibt Albino-Kaninchen, und ich bin eben ein Albino-Jude.«
»Diotallevi, man kann nicht einfach beschließen, Jude zu sein, so wie man beschließt, Briefmarkensammler oder Zeuge Jehovas zu werden. Als Jude wird man geboren. Finde dich damit ab, du bist ein Goj wie alle andern.«
»Ich bin beschnitten.«
»Also hör mal! Jeder kann sich beschneiden lassen, zum Beispiel aus hygienischen Gründen. Man braucht bloß einen Arzt mit Thermokauter. In welchem Alter hast du dich denn beschneiden lassen?«
»Seien wir nicht spitzfindig.«
»Doch, seien wir spitzfindig. Juden sind spitzfindig.«
»Niemand kann beweisen, dass mein Großvater kein Jude war.«
»Sicher nicht, er war ja ein Findelkind. Aber er hätte auch der Thronerbe von Byzanz sein können, oder ein Bastard der Habsburger.«
»Niemand kann beweisen, dass er kein Jude war, und er ist nahe am Portico d'Ottavia gefunden worden, beim alten römischen Ghetto.«
»Aber deine Großmutter war keine Jüdin, und das Judentum vererbt sich über die Mütter... «
»... und jenseits aller bürokratischen Argumente — denn auch die Gemeinderegister können jenseits der Buchstabenform gelesen werden — gibt es die Argumente des Blutes, und das Blut sagt mir, dass meine Gedanken zutiefst talmudisch sind, und es wäre rassistisch von dir, zu behaupten, dass auch ein Goj so zuinnerst talmudisch sein kann, wie ich mich zu sein empfinde.«
Sprach's und verließ den Raum. Als er draußen war, sagte Belbo zu mir: »Machen Sie sich nichts daraus. Diese Diskussion führen wir nahezu täglich, nur dass ich jeden Tag ein neues Argument anzubringen versuche. Tatsache ist, dass Diotallevi ein treuer Jünger der Kabbala ist Aber es hat auch christliche Kabbalisten gegeben. Und schließlich, sagen Sie selbst, Casaubon, wenn Diotallevi unbedingt Jude sein will, kann ich mich kaum widersetzen.«
»Kaum. Seien wir demokratisch.«
»Seien wir demokratisch.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Ich erinnerte ihn an den Grund meines Besuches: »Sie haben gesagt, Sie hätten ein Manuskript über die Templer.«
»Ja, stimmt... Warten Sie mal, es war in so einer Kunstledermappe... « Er wühlte in einem Stapel von Manuskripten und versuchte, eins aus der Mitte herauszuziehen, ohne die anderen abzuheben. Riskante Operation. Tatsächlich brach der Stapel zusammen und ergoss sich zum Teil auf den Boden. Aber Belbo hielt nun die Kunstledermappe in Händen.
Ich warf einen Blick aufs Inhaltsverzeichnis und überflog die Einleitung. »Betrifft die Verhaftung der Templer. Im Jahre 1307 ließ Philipp der Schöne alle Templer in Frankreich verhaften. Aber es gibt da eine Legende, nach der zwei Tage, bevor Philipp den Haftbefehl erteilte, in Paris ein Heuwagen, von zwei Ochsen gezogen, mit unbekanntem Ziel die Umfriedung des Tempels verließ. Es heißt, es sei eine Gruppe von Rittern unter der Führung eines gewissen Aumont gewesen und sie seien nach Schottland geflohen, um sich dort einer Maurerloge in Kilwinning anzuschließen. Der Legende zufolge haben die Ritter sich mit den freien Maurerzünften identifiziert, in denen die Geheimnisse des Salomonischen Tempels tradiert wurden... Hier, bitte, hab ich mir gleich gedacht. Auch der hier behauptet, den Ursprung des Freimaurertums in jener Flucht der Templer nach Schottland gefunden zu haben. Eine Mär, die seit zweihundert Jahren ständig wiedergekäut wird, reinste Fantasie. Kein Beweis weit und breit, ich könnte Ihnen ein halbes Hundert Bücher anschleppen, die alle denselben Stuss erzählen, eins vom anderen abgeschrieben. Sehen Sie hier, das hab ich aufs Geratewohl aufgeschlagen: ›Der Beweis für die schottische Expedition liegt in der Tatsache, dass sogar heute, nach sechshundertfünfzig Jahren, noch immer Geheimbünde in der Welt existieren, die sich auf die Tempelritter berufen. Wie lässt sich die Fortdauer dieser Erbschaft anders erklären?‹ Verstehen Sie? Wie sollte es möglich sein, dass der Marquis von Carabas nicht existiert, wo doch auch der Gestiefelte Kater beteuert, in seinen Diensten zu stehen?«
»Hab schon verstanden«, sagte Belbo. »Ich werfe das weg. Aber Ihre Templergeschichte interessiert mich. Jetzt, wo ich endlich mal einen Experten vor mir habe, will ich ihn mir nicht entwischen lassen. Wieso reden alle immer nur von den Tempelrittern und nicht zum Beispiel auch von den Maltesern? Nein, sagen Sie's mir nicht jetzt. Es ist schon spät, Diotallevi und ich müssen gleich zu einem Abendessen mit Signor Garamond. Aber ich hoffe, wir werden so gegen halb elf damit fertig sein. Wenn ich kann, überrede ich Diotallevi, auf einen Sprung zu Pilade mitzukommen — er geht gewöhnlich früh schlafen und ist Abstinenzler. Sind Sie dort zu finden?«
»Wo sonst? Ich gehöre zu einer verlorenen Generation und finde mich nur wieder, wenn ich in Gesellschaft der Einsamkeit meinesgleichen beiwohne.«
13
Li frere, li mestre du Temple Qu’estoient rempli et ample D’or et d’argent et de richesse Et qui menoient tel noblesse, Où sont il? que sont devenu?
(Die Brüder, die Meister des Tempels Die angefüllt waren und reichlich Mit Gold und Silber und Schätzen Und die solchen Adel führten Wo sind sie geblieben? Was ist aus ihnen geworden?)
Chronique à la suite du roman de Favel
Et in Arcadia ego. Pilade war an jenem Abend das Inbild des Goldenen Zeitalters. Es war so ein Abend, an dem man spürte, dass die Revolution nicht nur gemacht werden, sondern vom Unternehmerverband gesponsert sein würde. Nur bei Pilade konnte man den Besitzer einer Baumwollfabrik, in Jeansjacke und mit Bart, beim Pokern mit einem künftigen Untergrundkämpfer im Zweireiher und mit Krawatte sehen. Wir standen am Beginn eines großen Paradigmenwechsels. Noch zu Anfang der sechziger Jahre war der Bart ein Abzeichen der Faschisten gewesen — man musste ihn nur wie Italo Balbo tragen: spitz zulaufend, mit glatt rasierten Wangen —, Achtundsechzig war er dann zum Symbol der Protestbewegung geworden, und jetzt wurde er allmählich neutral, ein allgemeines Zeichen der Freiheit. Der Bart war seit jeher Maske gewesen (man klebt sich einen falschen Bart an, um nicht erkannt zu werden), aber zu Beginn der siebziger Jahre konnte man sich auch mit einem echten Bart vermummen. Man konnte lügen, indem man die Wahrheit sagte, ja indem man die Wahrheit enigmatisch und ungreifbar machte, denn angesichts eines Bartes konnte niemand mehr auf die Gesinnung des Trägers schließen. An jenem Abend indessen prangte der Bart auch auf den glatten Gesichtern derer, die gerade dadurch, dass sie keinen trugen, zu verstehen gaben, dass sie durchaus einen tragen könnten und nur der Provokation wegen darauf verzichteten.
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