Wer hatte gesagt, dass diese Nadel-Fiale von Notre-Dame de la Brocante dazu diene, Paris am Plafond des Universums aufzuhängen, »suspendre Paris au plafond de l'univers«? Im Gegenteil, der Eiffelturm lässt das Universum an seiner Spitze schweben — natürlich, schließlich ist er das Gegenstück zum Pendel!
Wie hatte man ihn genannt? Einsames Suppositorium, hohler Obelisk, Triumph des Eisendrahtes, Apotheose des Pfeilers, luftiger Götzenaltar, Biene im Herzen der Windrose, trist wie eine Ruine, hässlicher nachtfarbener Koloss, missgestaltes Symbol einer nutzlosen Kraft, absurdes Wunder, sinnlose Pyramide, Gitarre, Tintenfass, Teleskop, langatmig wie eine Ministerrede, antiker Gott und moderne Bestie... Dies alles und andres war er, und wenn ich den sechsten Sinn der Herren der Welt gehabt hätte, so hätte ich, nun, da ich eingebunden war in seine polypenverkrusteten Stimmbänder, ihn heiser die Sphärenmusik wispern hören, der Turm war in diesem Moment dabei, Wellen aus der hohlen Erde zu saugen und sie an alle Menhire der Welt auszusenden. Rhizom vernagelter Gelenke, zervikale Arthrose, Prothese einer Prothese — was für ein Horror, von da, wo ich war, hätten sie, um mich in den Abgrund zu schmettern, mich zur Spitze hinaufschleudern müssen. Sicher kam ich gerade von einer Reise durchs Zentrum der Erde zurück, ich schwankte noch im antigravitationalen Taumel der Antipoden.
Nein, wir hatten nicht fantasiert, der Turm erschien mir jetzt als der unheimliche Beweis für die Wahrheit des Großen Plans, aber bald würde er merken, dass ich der Spion war, der Feind, das Sandkorn in dem Getriebe, dessen Abbild und Motor er war, und dann würde er unmerklich eine Raute seiner bleiernen Klöppelspitzen nach unten verlängern und mich aufschlucken, ich würde in einer Falte seines Nichts verschwinden wie vorhin das Flugzeug, transferiert in ein Anderswo.
Wäre ich nur noch ein wenig länger da unter seiner durchbrochenen Wölbung geblieben, seine großen Krallen hätten sich zusammengezogen, hätten sich wie Klauen um mich gebogen und mich zermalmt, und dann hätte das Tier wieder seine übliche tückische Position eingenommen: als ein mörderischer und sinistrer Bleistiftanspitzer.
Noch ein Flugzeug. Diesmal kam es von nirgendwoher, der Turm hatte es zwischen seinen fleischlosen mastodontischen Wirbeln erzeugt. Ich betrachtete ihn, er nahm kein Ende, wie das Projekt, für das er geboren war. Wenn ich geblieben wäre, ohne verschlungen zu werden, hätte ich seine Veränderungen verfolgen können, seine langsamen Umdrehungen, seine infinitesimalen De-und Rekompositionen unter dem kalten Anhauch der Strömungen, vielleicht verstanden die Herren der Welt ihn als eine geomantische Zeichnung zu deuten, in seinen unmerklichen Metamorphosen hätten sie eindeutige Signale gelesen, unnennbare Aufträge. Der Turm drehte sich über mir wie ein Schraubenzieher des Mystischen Pols. Oder nein, er stand unbeweglich da wie ein magnetisierter Zapfen und ließ das Himmelsgewölbe um sich rotieren. Das Schwindelgefühl war dasselbe.
Wie gut der Turm sich zu tarnen weiß, sagte ich mir: Aus der Ferne winkt er dir freundlich zu, aber wenn du dich ihm näherst und in sein Geheimnis einzudringen versuchst, tötet er dich, er lässt deine Knochen gefrieren, einfach indem er den sinnlosen Horror vorzeigt, aus dem er gemacht ist. Jetzt weiß ich, dass Belbo tot ist und dass der Große Plan wahr ist, denn wirklich und wahr ist der Turm. Wenn es mir nicht gelingt zu fliehen, noch einmal zu fliehen, kann ich es niemandem sagen. Ich muß Alarm schlagen!
Motorengeräusch. Halt, zurück in die Realität. Ein Taxi, es kam sehr rasch näher. Mit einem Sprung gelang es mir, mich aus dem magischen Kreis zu retten, ich winkte mit beiden Armen, fast wäre ich unter die Räder gekommen, weil der Fahrer erst im letzten Augenblick bremste, als ob er es ungern täte... Unterwegs gestand er mir dann, dass auch ihm, wenn er nachts vorbeikomme, der Turm angst mache, und dann gebe er Gas. »Warum?« fragte ich. »Parce que... parce que ça fait peur, c’est tout. (Weil... das macht angst, das ist alles.)
Kurz darauf war ich am Hotel, aber ich musste lange klingeln, bis mir ein schläfriger Nachtportier aufmachte. Jetzt erst mal schlafen, sagte ich mir. Alles weitere morgen. Ich nahm ein paar Tabletten, genug, um mich zu vergiften. Dann erinnere ich mich an nichts mehr.
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Die Narrheit hat ein großes Zelt; Es lagert bei ihr alle Welt, Zumal wer Macht hat und viel Geld.
Sebastian Brant, Das Narrenschiff, 46
Um zwei Uhr nachmittags wachte ich auf, benommen und steif. Ich erinnerte mich genau an alles, aber nichts sagte mir, ob das, was ich in Erinnerung hatte, wirklich geschehen war. Im ersten Moment wollte ich hinunterlaufen, um nur Zeitungen zu holen, aber dann sagte ich mir, dass in jedem Fall, selbst wenn eine Kompanie von Spahis gleich nach dem Geschehen das Conservatoire gestürmt hätte, die Meldung nicht mehr rechtzeitig für die Morgenblätter gekommen wäre.
Außerdem hatte Paris an diesem Tag anderes im Kopf. Der Portier sagte es mir sofort, als ich zum Kaffeetrinken herunterkam. Die Stadt sei in Aufruhr, viele Metrostationen seien geschlossen, an einigen Stellen habe die Polizei gewaltsam gegen die Menge vorgehen müssen, die Studenten seien zu viele und manche gingen zu weit.
Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Doktor Wagner. Ich probierte sie, aber natürlich war er am Sonntag nicht in seiner Praxis. Ich musste sowieso erst ins Conservatoire, um mich zu vergewissern, und Sonntag nachmittags war es ja offen.
Das Quartier Latin brodelte. Lärmende Gruppen mit Fahnen zogen vorbei. Auf der Ile de la Cité war eine Polizeisperre. In der Ferne hörte man Schüsse. So ähnlich musste es Achtundsechzig gewesen sein. In Höhe der Sainte Chapelle hatte es Zoff gegeben, es roch nach Tränengas. Ich hörte Geschrei und Getrappel, es klang wie ein Angriff, ich wusste nicht, ob es Studenten waren oder die Flics, die Leute um mich herum fingen an zu rennen, wir flüchteten uns hinter eine Absperrung mit einem Polizeikordon davor, während es auf der Straße zu Handgreiflichkeiten kam. Was für eine Schande: da war ich nun unter den bejahrten Bourgeois, die abwarteten, dass die Revolution sich legte!
Dann war der Weg frei, ich ging durch Nebenstraßen im alten Hallenviertel, bis ich wieder zur Rue Saint-Martin gelangte. Das Conservatoire war geöffnet, friedlich stand es da mit seinem kleinen weißen Vorhof, an der Fassade die Plakette: »Le Conservatoire des Arts et Métiers, institué par décret de la Convention du 19 Vendémiaire An III... dans le bâtiment de l’ancien prieuré de Saint-Martin-des-Champs fondé au 11ème siècle.« Alles normal, mit einer kleinen sonntäglichen Menge, die sich im Eingang drängte, unbeeindruckt von der studentischen Kirmes.
Ich trat ein — sonntags gratis —, und alles war wie am Nachmittag zuvor. Die Wärter, die Besucher, das Pendel an seinem gewohnten Ort... Ich suchte nach Spuren dessen, was geschehen war, aber wenn es geschehen war, hatte jemand gewissenhaft sauber gemacht. Wenn es geschehen war.
Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Ich weiß nicht mal mehr, was ich sah, als ich durch die Straßen irrte, immer wieder gezwungen, in Seitengassen abzubiegen, um Tumulten auszuweichen. Ich rief in Mailand an, nur um nichts unversucht zu lassen, wählte beschwörend, wie um das Unheil zu bannen, erst Belbos Nummer, dann die von Lorenza. Dann die des Verlags, wo um diese Zeit niemand sein konnte.
Und dabei, wenn jetzt noch heute ist, war das alles erst gestern gewesen. Aber von vorgestern Abend bis heute Nacht ist eine Ewigkeit vergangen.
Gegen Abend merkte ich, dass ich Hunger hatte. Ich wollte Ruhe, nur Ruhe und ein bisschen Komfort. Am Forum des Halles fand ich ein Restaurant, das mir Fisch versprach. Es bot dann sogar zu viel davon. Mein Tisch stand genau vor einem Aquarium. Eine hinreichend irreale Welt, um mich erneut in ein Klima des absoluten Argwohns zu stürzen. Nichts ist zufällig. Der Fisch da sieht aus wie ein asthmatischer Hesychast, der den Glauben verliert und Gott anklagt, den Sinn des Universums verringert zu haben. Oh, Herre Zebaoth, Zebaoth, wie kannst du nur so gemein sein, mich glauben zu machen, dass du nicht existierst? Wie ein Krebsgeschwür breitet das Fleisch sich über die Welt... Und jener andere Fisch da, der sieht aus wie Minnie, er klappert mit langen Wimpern und zieht eine herzförmige Schnute. Min-nie ist die Verlobte von Mickymaus. Ich esse salade folle mit einer Scholle so zart wie Babyfleisch. Mit Honig und Pfeffer. Die Paulizianer sind unter uns. Der Fisch dort gleitet durch die Korallen wie das Flugzeug von Breguet — lange Flügelschläge wie ein Lepidopterus, hundert zu eins, dass er seinen Homunkulus-Fötus verlassen am Grund eines gläsernen Kolbens erspäht hat, in einem Athanor, der nun zerbrochen im Müll vor dem Haus von Nicolas Flamel liegt. Und dort drüben ein Templerfisch, ganz in Schwarz gepanzert, auf der Suche nach Noffo Dei. Er streift den asthmatischen Hesychasten, der gedankenverloren und grimmig dem Unsagbaren entgegenschwimmt. Ich wende den Blick ab, sehe durchs Fenster, und auf der anderen Straßenseite fällt mir das Schild eines anderen Restaurants ins Auge, CHEZ R... Rose-Croix? Reuchlin? Rosispergius? Ratschkowskiragotzitzarogi? Signaturen, Signaturen...
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