»Tox-Ergebnisse gibt es wohl noch nicht?«, fragte Hunter.
»Nein, das dauert noch. Morgen oder übermorgen vielleicht. Meine Vermutung ist, dass wir dieselben herzschlagregulierenden Präparate finden werden, die der Täter schon seinem ersten Opfer verabreicht hat.«
Hunter vermutete dasselbe, trotzdem war da etwas an Hoves Verhalten, das ihn misstrauisch machte. Irgendetwas schien ihr sehr zuzusetzen. »Gibt es sonst noch was?«, fragte er ins Blaue hinein.
Dr. Hove holte tief Luft und vergrub die Hände in den Taschen ihres langen, weißen Kittels. »Sie wissen, dass ich schon lange in der Rechtsmedizin arbeite, Robert. Und wenn man in einer Stadt wie L. A. Rechtsmedizinerin ist, gewöhnt man sich schnell daran, mehr oder weniger täglich mit dem Schlimmsten konfrontiert zu werden, was die menschliche Natur zu bieten hat. Aber eins sage ich Ihnen hier und jetzt: Wenn es so was gibt wie das absolute Böse oder einen Dämon in Menschengestalt, dann ist es dieser Mörder. Ganz im Ernst, es würde mich nicht wundern, wenn Sie bei seiner Verhaftung feststellen, dass er Hörner hat.«
Die Worte ließen Hunter und Garcia innehalten. Wie ein immer wiederkehrender Alptraum erschien das Schattenbild der Skulptur aus Dupeks Kajüte vor ihrem inneren Auge.
»Warten Sie mal.« Garcia hob die Hand, bevor er einen flüchtigen, beunruhigten Blick mit Hunter tauschte. »Wie kommen Sie denn auf so was, Doc?«
Die Rechtsmedizinerin drehte sich um. »Ich zeige es Ihnen.«
Alice war gerade mit einer weiteren Akte fertig und sah auf die Uhr. Sie las nun schon seit dreieinhalb Stunden, und noch immer hatte sie keine Spur gefunden, die weiterzuverfolgen sich gelohnt hätte. Achtunddreißig der sechsundvierzig Dokumente, die ihr selbstgeschriebenes Programm markiert hatte, war sie bereits durchgegangen.
Kopfschüttelnd und mit mürrischem Blick beäugte sie die zwei noch unberührten Kartons voller Akten, die auf ihrem Schreibtisch standen. Diesmal hatte sie sich übernommen, das stand fest. Um bis zum Abend sämtliche Unterlagen durchzuarbeiten, hätte sie ein ganzes Team von Leuten und noch ein oder zwei Programmierer gebraucht. Vielleicht sollte sie stattdessen lieber einen weiteren Versuch machen, etwas über die Bedeutung des neuen Schattenbilds herauszufinden. Womöglich hätte sie damit mehr Erfolg.
Alice goss sich eine frische Tasse Kaffee ein und ließ sich gegen die Wand sinken. Dabei blieb ihr Blick einen Moment lang an der Pinnwand hängen. Die Grausamkeit der Bilder jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wie konnte jemand so abgrundtief böse sein? So krank? Und trotzdem noch intelligent genug, solche Skulpturen und Schattenbilder auszutüfteln? Intelligent genug, sich Zugang zu einem fremden Haus oder Boot zu verschaffen, dort sein Opfer stundenlang zu quälen, es in Stücke zu schneiden und dann unerkannt zu verschwinden? Ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen – mit Ausnahme derjenigen, von denen er wollte, dass die Polizei sie findet?
Alice zwang sich, den Blick abzuwenden, und verjagte die Bilder aus ihrem Kopf. Sie konzentrierte sich wieder auf die Dokumentenberge zu ihren Füßen. Auf den Deckblättern der Akten waren jeweils die Fallnummer sowie der Name des Angeklagten beziehungsweise Verurteilten vermerkt. Sie starrte eine Weile grübelnd darauf und wog ihr weiteres Vorgehen ab. Sie hatte bereits einige der Fälle überflogen, an deren Ermittlungen Dupek entweder als Detective oder in anderer Funktion beteiligt gewesen war. Bei der Mehrzahl der Verhafteten handelte es sich um Gang-Mitglieder, Schläger, Diebe und ganz gewöhnliche Kleinkriminelle. Personen, die – zumindest ihrer Auffassung nach – auf keinen Fall als der gesuchte Mörder in Frage kamen. Sie bezweifelte, dass sie dort eine Verbindung finden würde. Allerdings hatte sie mit der Liste der Opfer, die möglicherweise Derek Nicholson und dem Staat Kalifornien für einen verlorenen Prozess die Schuld gaben, noch nicht einmal angefangen.
Sie trank zu hastig von ihrem Kaffee und verbrühte sich den Gaumen. Dann erstarrte sie plötzlich. Ihr war soeben eine Idee gekommen, gerade weil es scheinbar keine Verbindungen zwischen den Listen gab.
Auf ihrem Computer rief Alice das Programmierfenster ihrer selbstgeschriebenen Anwendung auf. Ein paar kleine Modifikationen hier und da, schon hätte sie ein neues, verbessertes Suchprogramm. Sie brauchte dreißig Minuten, um alle Änderungen vorzunehmen. Mit Hilfe ihres Sicherheitsschlüssels konnte sie ihrem neuen Programm erlauben, auf die Datenbank der Bezirksstaatsanwaltschaft zuzugreifen. Hunter hatte ihr außerdem ein Passwort gegeben, mit dessen Hilfe sie sich Zugang zur Datenbank des LAPD und der Nationalen Verbrecherdatenbank verschaffen konnte.
Während das Programm arbeitete, wandte sich Alice wieder ihren Akten zu. Das Programm musste sich in zwei verschiedene Datenbanken auf zwei unterschiedlichen Servern einklinken und sie durchsuchen. Es war damit zu rechnen, dass der Vorgang eine ganze Weile dauern würde.
Die ersten Ergebnisse lagen nach einer guten halben Stunde vor. Vierunddreißig Namen. Alice rief die Zusammenfassungen der dazugehörigen Fallakten auf und druckte sie aus. Sie ging sie einzeln durch und machte sich beim Lesen am Rand Notizen. Bei der vierundzwanzigsten angekommen, spürte sie plötzlich, wie ihr kalt wurde. Sie ließ das Blatt sinken und suchte rasch unter den restlichen Dokumenten nach dem zweiten Fall, den ihr Programm mit Nummer vierundzwanzig verknüpft hatte. Als sie ihn gefunden hatte, schnappte sie überrascht nach Luft, und es war, als führe ein eisiger Wind in ihre Lungen.
»Na, wenn das nicht interessant ist.«
Dr. Hove lenkte Hunters und Garcias Aufmerksamkeit erneut auf den Sektionstisch mit Dupeks Gliedmaßen.
»Der Kopf wurde als Letztes vom Rumpf abgetrennt«, sagte sie, trat näher und drehte Dupeks Kopf herum, so dass die große Wunde an der linken Wange sichtbar wurde. »Hier kann man sehen, wie der Täter sein Opfer überwältigt hat. Ein einzelner, sehr heftig ausgeführter Schlag ins Gesicht. Vermutlich mit einem schweren Metallgegenstand oder einer dicken hölzernen Schlagwaffe; ein Rohr oder ein Baseballschläger oder Ähnliches.«
Garcia drehte den Kopf hin und her, als wäre ihm sein Kragen zu eng.
»Sein Kiefer ist an drei Stellen gebrochen«, fuhr Dr. Hove fort und deutete auf das aus der Haut ragende, etwa fünf Millimeter breite Fragment der Mandibula, das Hunter bereits in der Kajüte aufgefallen war. »Knochensplitter haben ihm den Mundinnenraum aufgeschnitten. Einige sind wie Nägel ins Zahnfleisch eingedrungen. Er hat durch den Schlag insgesamt drei Zähne verloren.«
Von den anderen unbemerkt, fuhr sich Garcia mit der Zunge über die eigenen Zähne und unterdrückte ein Schaudern.
»Die Spurensicherung hat alle drei Zähne in der Kajüte sichergestellt«, merkte Dr. Hove an.
»Durch den Schlag ins Gesicht hat er also das Bewusstsein verloren?«, fragte Hunter.
»Ganz genau. Aber im Gegensatz zum ersten Opfer, das praktisch ans Bett gefesselt und seinem sadistischen Peiniger hilflos ausgeliefert war, hätte sich dieses Opfer, sofern bei vollem Bewusstsein, problemlos zur Wehr setzen können. Für sein Alter und in Anbetracht der Tatsache, dass einer seiner Lungenflügel nicht mehr voll funktionstüchtig war, befand er sich in guter körperlicher Verfassung.« Dr. Hove deutete auf die abgetrennten Körperteile. »Die Muskeln in seinen Armen und Beinen waren gut ausgebildet, vermutlich hat er regelmäßig Sport getrieben. Sich fit gehalten.«
»Aber es gibt keine sichtbaren Fesselmarken an den Handgelenken oder irgendwo sonst an den Armen.« Hunter beugte sich vor und betrachtete die Körperteile auf dem Tisch ein wenig genauer.
»Das stimmt«, räumte die Rechtsmedizinerin ein. »Die Spurensicherung hat auch nichts gefunden, was darauf hindeuten würde, dass das Opfer an den Stuhl gefesselt war oder auf irgendeine andere Art fixiert wurde.«
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