David stieß einen Pfiff aus. »So viele!«
John schüttelte den Kopf. » So viele sind das nicht. Wenn es sich um eine Krankheit handeln würde – und davon müssen wir nicht noch mal anfangen, weil es keine ist –, dann wäre sie so selten wie Elephantiasis. Oder wie die Blaschko-Linien, bei denen die Erkrankten sich sozusagen in ein menschliches Zebra verwandeln. Davon ist etwa einer von sieben Millionen Menschen betroffen. Das, was Abra hat, fiele in diese Kategorie.«
»Und was genau ist das, was Abra hat?« Lucy hatte die Hand ihres Mannes ergriffen und hielt sie fest umklammert. »Telepathie? Telekinese? Irgendwas anderes mit Tele? «
»Diese Phänomene spielen eindeutig eine Rolle. Ist sie telepathisch veranlagt? Da sie vorab weiß, wenn jemand zu Besuch kommt, und da sie gespürt hat, dass diese Nachbarin von der Leiter gefallen ist, trifft das offenbar zu. Hat sie telekinetische Fähigkeiten? Nach dem, was ich bei ihrer Geburtstagsparty in der Küche gesehen habe, eindeutig ja. Ist sie medial veranlagt? Eine Hellseherin, um es etwas flotter zu formulieren? Das ist nicht ganz so eindeutig, wenngleich die Sache mit dem Zwanzigdollarschein hinter der Kommode darauf hinweist. Aber was ist mit dem Abend, an dem in Ihrem Fernseher auf allen Sendern die Simpsons liefen? Wie soll man so was nennen? Und was ist mit der mysteriösen Beatles-Melodie? Wenn die Töne aus dem Klavier gekommen wären, könnte man von Telekinese sprechen … aber Sie haben gesagt, das sei nicht der Fall gewesen.«
»Und was nun?«, fragte Lucy. »Worauf sollen wir achten?«
»Das weiß ich auch nicht. Es gibt keine erprobte Prozedur, der wir folgen könnten. Das Problem mit übersinnlichen Phänomenen ist, dass es sich um kein richtiges Forschungsgebiet handelt. Da gibt es zu viel Scharlatanerie und zu viele Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben.«
»Das heißt, langer Rede kurzer Sinn, Sie können uns nicht sagen, was wir tun sollen«, stellte Lucy fest.
John grinste. »Ich kann Ihnen genau sagen, was Sie tun sollen: Abra weiterhin liebhaben. Wenn mein Neffe recht hat – aber vergessen Sie nicht, dass er a) erst siebzehn ist und b) seine Schlussfolgerungen auf unsicheren Daten beruhen –, dann werden Sie wahrscheinlich noch allerhand erleben, bis Abra zum Teenager wird. Manches davon wird ziemlich krass sein. Im Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren wird das einen Höhepunkt erreichen und dann allmählich abnehmen. Wenn Abra zwanzig ist, werden die verschiedenen Phänomene, die sie verursacht, wahrscheinlich nur noch belangloser Natur sein.« Wieder grinste er. »Aber sie wird ihr ganzes Leben lang fantastisch Poker spielen können.«
»Was ist, wenn sie tote Menschen sieht wie der kleine Junge in diesem Film?«, fragte Lucy. »Was tun wir dann?«
»Dann werden Sie wohl einen Beweis dafür haben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Machen Sie sich einstweilen bitte keine Sorgen. Und halten Sie dicht, ja?«
»Oh, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Lucy. Sie brachte ein Lächeln zustande, aber da sie sich den Großteil ihres Lippenstifts abgekaut hatte, sah es nicht besonders zuversichtlich aus. »Schließlich wollen wir definitiv nicht, dass unsere Tochter auf dem Titel vom Inside View landet.«
»Gott sei Dank hat das mit den Löffeln niemand von den anderen Eltern gesehen«, sagte David.
»Ich habe eine Frage«, sagte John. »Meinen Sie, Abra weiß, wie besonders sie ist?«
Die Stones tauschten einen Blick.
»Also, ich glaube … nicht«, sagte Lucy schließlich. »Obwohl wir um die Sache mit den Löffeln ja ein ziemliches Theater gemacht haben.«
»Den Eindruck haben Sie vielleicht, aber auf Abra hat es wahrscheinlich nicht so gewirkt«, sagte John. »Sie hat ein bisschen geweint, aber als sie in den Garten gegangen ist, hatte sie schon wieder ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie haben sie ja nicht angebrüllt, getadelt oder gar verprügelt. Ich würde Ihnen raten, es vorläufig einfach laufen zu lassen. Wenn Abra etwas älter ist, können Sie sie davor warnen, ihre Tricks in der Schule vorzuführen. Abgesehen davon sollten Sie sie ganz normal behandeln, weil sie das ja hauptsächlich ist. Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte David. »Sie hat keine Flecke, Beulen oder ein drittes Auge.«
»Doch, das hat sie«, sagte Lucy. Ihr war die Glückshaube eingefallen. »Ein drittes Auge hat sie auf jeden Fall. Man kann es zwar nicht sehen … aber es ist da.«
John erhob sich. »Ich werde meinem Neffen sagen, er soll mir alles ausdrucken, damit ich es Ihnen schicken kann, wenn Sie wollen.«
»Natürlich«, sagte David. »Auf jeden Fall. Unsere liebe, alte Momo will es bestimmt auch sehen.« Bei diesen Worten rümpfte er leicht die Nase. Lucy sah es und runzelte die Stirn.
»Ansonsten sollten Sie sich einfach über Ihre Tochter freuen«, sagte John. »Nach allem, was ich mitbekommen habe, ist sie ein sehr liebes Kind. Das andere geht vorbei.«
Eine Weile hatte es sogar den Anschein, als würde er recht behalten.
Kapitel vier
EIN AUFTRAG FÜR DOCTOR SLEEP
1
Es war Januar 2007. Im Turmzimmer des Hospizes lief Dans Heizgerät auf Hochtouren, aber es war trotzdem kalt. Ein Nordostwind mit Orkanböen war von den Bergen herabgeweht und hatte pro Stunde fünfzehn Zentimeter Schnee auf das schlafende Frazier abgeladen. Als der Sturm am folgenden Nachmittag endlich nachließ, waren die Schneewehen, die sich an der Nord- und Ostseite der Gebäude an der Cranmore Avenue auftürmten, vier Meter hoch.
Dan machte die Kälte nichts aus; unter zwei Federbetten gekuschelt, war ihm mollig warm. Allerdings hatte der Wind sich in seinen Kopf geschlichen, so wie er sich durch die Fensterspalte und über die Türschwellen des alten viktorianischen Baus schlich, der nun Dans Zuhause war. In seinem Traum konnte er diesen Wind um das Hotel heulen hören, in dem er als Junge einen Winter verbracht hatte. In seinem Traum war er dieser Junge.
Er ist in der ersten Etage des Overlooks. Mami schläft, und Daddy ist im Keller, um sich alte Zeitungen anzuschauen. Er RECHERCHIERT. Das tut er für das Buch, das er schreiben will. Danny soll eigentlich nicht hier oben sein, und den Generalschlüssel, den er mit einer Hand umklammert, sollte er auch nicht haben, aber er hat sich einfach nicht bezähmen können. Momentan starrt er auf einen Löschschlauch, der an der Wand hängt. Der ist vielfach zusammengefaltet und sieht aus wie eine Schlange mit Messingkopf. Eine schlafende Schlange. Natürlich ist es keine Schlange – was er da sieht, ist Hanfgewebe, keine Schuppen –, aber es sieht eindeutig wie eine Schlange aus.
Manchmal ist es auch eine Schlange.
»Los, mach schon!«, flüstert er ihr in diesem Traum zu. Er zittert vor Entsetzen, aber irgendetwas treibt ihn an. Und weshalb? Weil er selber RECHERCHIERT, deshalb. »Los, beiß mich! Das kannst du aber nicht, stimmt’s? Weil du doch bloß ein dämlicher SCHLAUCH bist!«
Die Düse des dämlichen Schlauchs bewegt sich, und plötzlich sieht Danny sie nicht mehr von der Seite her, er blickt in ihre Öffnung. Oder vielleicht in ihren Mund. Unterhalb des schwarzen Lochs erscheint ein einzelner, klarer Tropfen, der sich langsam auseinanderzieht. Danny kann darin das Spiegelbild seiner eigenen, weit geöffneten Augen sehen.
Ein Wassertropfen oder ein Tropfen Gift?
Ist das eine Schlange oder ein Schlauch?
Wer kann das schon sagen, mein lieber Drom … Drom, mein Lieber? Wer kann das schon sagen?
Das Ding summt ihn an, und aus seinem hektisch schlagenden Herzen springt ihm Entsetzen in die Kehle. So summen Klapperschlangen.
Nun bewegt sich die Düse der Schlauchschlange von dem zusammengefalteten Schlauch weg, auf dem sie gelegen hat, und fällt mit dumpfem Poltern auf den Teppichboden. Dort summt sie wieder, und er weiß, dass er zurückweichen sollte, bevor sie auf ihn zuschießen und ihn beißen kann, aber er ist erstarrt, er kann sich nicht bewegen, und sie summt …
Читать дальше