John fand, dass sie da unrecht haben könnte. Der Auftritt des jungen Mannes war perfekt darauf kalkuliert, die kindliche Fantasie anzuregen, und seine Perücke war lustig, statt den Kleinen Angst einzujagen. Auf seinem fröhlichen Gesicht war keine Spur Schminke, was ebenfalls eine gute Idee war. Die Wirkung von Clowns wurde nach Johns Meinung völlig falsch eingeschätzt. Kindern unter sechs Jahren jagten sie eine Heidenangst ein, ältere Kinder fanden sie hingegen einfach langweilig.
Meine Güte, hab ich heute eine miese Laune.
Das lag vielleicht daran, dass er irgendein krasses Ereignis erwartet hatte, und nichts war geschehen. Aus seiner Sicht war Abra ein völlig normales kleines Kind. Womöglich fröhlicher als die meisten ihrer Altersgenossen, aber die gute Laune schien in der Familie zu liegen. Außer wenn Chetta und Dave sich gegenseitig angifteten, natürlich.
»Man darf die Aufmerksamkeitsspanne kleiner Kinder nicht unterschätzen.« Er beugte sich an Chetta vorbei zu Lucy, um ihr mit seiner Papierserviette die Schokolade vom Kinn zu wischen. »Wenn er was vorbereitet hat, wird er sie mindestens fünfzehn Minuten bei der Stange halten. Vielleicht sogar zwanzig.«
»Ja, wenn er was vorbereitet hat.«
Es stellte sich heraus, dass Reggie Pelletier alias Der große Mysterio tatsächlich etwas vorbereitet hatte, und zwar etwas Gutes. Während sein treuer Assistent, der nicht-so-große Dave, den Tisch aufstellte und den Koffer öffnete, forderte Mysterio das Geburtstagskind und dessen Gäste auf, die Blume im Knopfloch zu bewundern. Als die Kinder näher kamen, spritzte ihnen daraus Wasser ins Gesicht, zuerst rot, dann grün, dann blau. Vom reichlich genossenen Süßkram aufgeputscht, kreischten die Kleinen vor Lachen.
»Und nun, liebe Kinder … Uh! Ah! Ih! Das kitzelt!«
Er nahm die Melone ab und zog ein weißes Kaninchen daraus hervor. Den Kindern verschlug es den Atem. Mysterio reichte das Kaninchen Abra, die es streichelte und weitergab, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Dem Tier schien die Aufmerksamkeit nichts auszumachen. Vielleicht hatte es vor der Vorstellung ein paar mit Valium getränkte Pellets geknabbert, dachte John. Das letzte Kind gab es Mysterio zurück, der es wieder in den Hut steckte, mit der Hand darüberfuhr und dann die Innenseite des Huts vorzeigte. Bis auf das Futter in den Farben der amerikanischen Fahne war es leer.
»Wo ist das Häschen hin?«, fragte die kleine Susie Soong-Bartlett.
»In deine Träume, junge Dame«, sagte Mysterio. »Da wird es heute Nacht herumhüpfen. Na, wer will jetzt einen Zauberschal?«
Jungen wie Mädchen riefen »Ich, ich!«, worauf Mysterio Schals aus seinen Fäusten zog und verteilte. Es folgten weitere Tricks in rascher Abfolge. Laut John Daltons Armbanduhr standen die Kinder mindestens fünfundzwanzig Minuten im Halbkreis um den Zauberer und machten Stielaugen. Gerade als im Publikum erste Anzeichen von Unruhe erkennbar wurden, kam Mysterio zum Ende. Er zog fünf Teller aus seinem Koffer (der, als er ihn vorgezeigt hatte, scheinbar so leer gewesen war wie sein Hut), jonglierte damit und sang dabei »Happy Birthday«. Alle Kinder stimmten ein, und Abra schien vor Freude fast in der Luft zu schweben.
Die Teller kamen wieder in den Koffer. Mysterio zeigte dessen Inneres noch einmal vor, damit die Kinder sehen konnten, dass er leer war, dann zog er ein halbes Dutzend Löffel heraus. Die hängte er sich ins Gesicht, den letzten an die Nasenspitze. Davon war das Geburtstagskind besonders begeistert; es ließ sich lachend ins Gras plumpsen und umklammerte sich vor Freude mit den Armen.
»Abba kann das auch!«, verkündete Abra, die in letzter Zeit gern in der dritten Person von sich sprach, was David als ihre Cäsarenphase bezeichnete. »Abba kann Löffeln machen!«
»Na, das ist aber prima, Schatz«, sagte Mysterio, ohne den Einwurf richtig zu beachten. Das konnte man ihm nicht übel nehmen, schließlich hatte er gerade eine erstklassige Kindershow hingelegt. Trotz der kühlen Brise, die vom Fluss heraufzog, war sein Gesicht rot und verschwitzt, und er hatte noch seinen großen Abgang vor sich, bei dem er mit seinem Riesendreirad den Hang hinauffahren musste.
Er beugte sich zu Abra und tätschelte ihr mit seinem weißen Handschuh den Kopf. »Alles Gute zum Geburtstag! Und danke, liebe Kinder, dass ihr so ein tolles Pub…«
Im Inneren des Hauses ertönte ein lautes, musikalisches Klirren, ganz ähnlich wie der Klang der Glöckchen, die am Lenker des Godzilla-Dreirads hingen. Die Kinder warfen nur einen kurzen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kam, dann drehten sie sich wieder um und beobachteten, wie Mysterio davonfuhr. Lucy hingegen stand auf, um nachzusehen, was da wohl in der Küche umgefallen war.
Zwei Minuten später kam sie wieder in den Garten. »John, sehen Sie sich das mal an«, sagte sie. »Ich glaube, darauf haben Sie gewartet.«
12
John, Lucy und Concetta standen in der Küche und blickten schweigend an die Decke. Keiner der drei drehte sich um, als David zu ihnen stieß; sie waren regelrecht hypnotisiert. »Was ist …«, fing er an, dann sah er, was war. »Heiliger Bimbam!«
Darauf erhielt er keine Antwort. David starrte noch ein wenig länger hin und versuchte zu begreifen, was er da sah, dann verschwand er wieder. Als er wenig später zurückkam, hatte er seine Tochter an der Hand. Abra hielt einen Luftballon. Sie hatte den von Mysterio stammenden Schal wie eine Schärpe um die Taille geschlungen.
John Dalton ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder. »Warst du das, Schatz?« Das war eine Frage, deren Antwort sie sicherlich kannte, aber er wollte hören, was sie zu sagen hatte. Wie viel war ihr wohl bewusst?
Zuerst blickte Abra auf den Boden, wo die Besteckschublade lag. Einige der Messer und Gabeln waren herausgehüpft, als die Schublade aus ihrer Führung geschossen war, aber die lagen alle daneben. Die Löffel hingegen nicht. Die hingen an der Decke, als würden sie von irgendeiner exotischen magnetischen Kraft angezogen. Einige schaukelten träge an den Deckenlampen. Der größte, ein Servierlöffel, baumelte an der Dunstabzugshaube über dem Herd.
Alle Kinder besaßen ihren eigenen Mechanismus, sich zu beruhigen. Aus Erfahrung wusste John, dass das meistens ein fest im Mund verankerter Daumen war. Abras Mechanismus war ein wenig anders. Sie legte die rechte Hand über die untere Hälfte ihres Gesichts und rieb sich mit der Handfläche über die Lippen. Als sie antwortete, waren ihre Worte daher unverständlich. John zog ihr behutsam die Hand weg. »Was sagst du, Schatz?«
»Ist das schlimm?«, sagte sie leise. »Ich … ich …« Ihre kleine Brust begann zu zittern. Sie versuchte, die beruhigende Hand wieder über den Mund zu legen, aber John hielt sie fest. »Ich wollte bloß wie Miastrosio sein.« Sie begann zu weinen. John ließ ihre Hand los, die sie sofort wieder über den Mund legte, um hektisch daran zu reiben.
David nahm sie hoch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Lucy schlang die Arme um beide und küsste ihre Tochter auf den Scheitel. »Nein, Schatz, nein. Das ist überhaupt nicht schlimm. Alles in Ordnung.«
Abra vergrub das Gesicht am Hals ihrer Mutter. Als sie das tat, fielen die Löffel herab. Das Geklapper ließ alle zusammenzucken.
13
Zwei Monate später, als der Sommer Einzug in die White Mountains von New Hampshire hielt, saßen David und Lucy Stone in John Daltons Sprechzimmer, dessen Wände mit den Fotos lächelnder Kinder gepflastert waren. Im Lauf der Jahre hatte er sie alle behandelt, und viele von ihnen waren inzwischen alt genug, selber Kinder zu haben.
»Ich hab einen Neffen, der sich gut mit dem Internet auskennt, und den hab ich beauftragt festzustellen, ob Fälle wie der Ihrer Tochter dokumentiert sind, und gegebenenfalls eingehender zu recherchieren. Keine Angst, er verlangt nicht viel, außerdem geht das auf meine Kappe. Er hat sich bei seiner Suche auf die letzten dreißig Jahre beschränkt und über neunhundert Fälle gefunden.«
Читать дальше