»Was ist mit Dan?«, fragte John.
»Dem geht es gut. Mr. Freeman hat seinen Pick-up demoliert – das ging nicht anders –, und er hat eine Schnittwunde am …« Sie legte sich eine Hand an die Wange. »… aber ich glaube, sonst ist ihm nichts passiert.«
»Und diese Leute? Der Wahre Knoten?«
Abra hob die flache Hand zum Mund und blies darauf.
»Hinüber.« Und dann: »Was gibt’s zu essen? Ich hab einen Wahnsinnshunger.«
11
Dass es Dan gutgehe, war eher eine leichte Übertreibung. Er schleppte zu Billys Pick-up und setzte sich in die offene Tür, um wieder zu Atem zu kommen. Und zu Verstand.
Wir waren im Urlaub, reimte er sich eine Geschichte zusammen. Ich wollte unser altes Viertel in Boulder wiedersehen. Dann sind wir hier heraufgefahren, um einen Blick vom Dach der Welt zu werfen. Als ich gesehen hab, dass der Campingplatz verlassen war, wurde ich übermütig und hab mit Billy gewettet, ich könnte seinen Wagen den Abhang hoch bis zur Treppe der Plattform fahren. Dabei war ich zu schnell und hab die Kontrolle verloren. Bin an einen der Stützpfosten gekracht. Tut mir echt leid. Das war ein wirklich dämlicher Einfall.
Es war zwar eine anständige Geldstrafe zu erwarten, aber einen Lichtblick hatte die Story: Den Alkoholtest würde er mit Bravour bestehen.
Dan warf einen Blick ins Handschuhfach und fand eine Dose mit Feuerzeugbenzin. Kein Zippo – das steckte bestimmt in Billys Hosentasche –, aber da lagen tatsächlich zwei angebrochene Streichholzbriefchen. Er ging dorthin, wo der Zylinder lag, und übergoss ihn ausgiebig mit dem Feuerzeugbenzin. Dann hockte er sich hin, riss ein Streichholz an und warf es in die umgedrehte Innenseite des Huts. Der brannte nicht lange und züngelte im Wind, bis er nur noch Asche war.
Es roch nach Fäulnis.
Als Dan aufblickte, sah er Billy auf sich zutrotten. Sein Freund wischte sich mit dem Ärmel über das blutige Gesicht. Während sie gemeinsam durch die Asche trampelten, damit kein Funke mehr übrig war, der einen Waldbrand auslösen konnte, trug Dan die Geschichte vor, die sie der Polizei erzählen würden.
»Die Reparatur von dem Ding da werde ich bezahlen müssen, und die ist bestimmt nicht billig«, sagte er. »Gut, dass ich was angespart hab.«
Billy schnaubte. »Wer soll dich wegen dem Schaden denn verklagen? Von diesem Wahren Knoten sind bloß noch die Klamotten übrig. Hab’s mir angeschaut.«
»Leider gehört das Dach der Welt dem großen Staate Colorado«, sagte Dan.
»Scheiße«, sagte Billy. »Das ist nicht fair, immerhin hast du Colorado und dem Rest der Welt gerade einen ziemlichen Gefallen getan. Wo ist eigentlich Abra?«
»Wieder zu Hause.«
»Gut. Und es ist vorbei? Wirklich vorbei?«
Dan nickte.
Billy starrte auf die Asche von Rose’ Zylinder. »Das Ding ist verflucht schnell verbrannt. War fast wie einer dieser Spezialeffekte im Film.«
»Wahrscheinlich war der Hut sehr alt.« Und voller Magie, dachte er, ohne es auszusprechen. Der von der schwarzen Sorte.
Dan ging zum Pick-up und setzte sich ans Lenkrad, um im Rückspiegel sein Gesicht zu betrachten.
»Siehst du irgendwas, was nicht da sein sollte?«, fragte Billy. »Das hat meine Mama immer gefragt, wenn ich belämmert in den Spiegel geschaut hab.«
»Nichts«, sagte Dan. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das müde, aber echt war. »Absolut nichts.«
»Na, dann rufen wir mal die Polizei an und erzählen von unserem Unfall«, sagte Billy. »Normalerweise hab ich mit den Typen lieber nichts zu tun, aber momentan ist mir ein bisschen Gesellschaft ganz lieb. Hier gruselt es mich irgendwie.« Er warf Dan einen verschmitzten Blick zu. »Massenhaft Geister, stimmt’s? Deshalb haben die Typen auch diesen Ort ausgewählt.«
Das war zweifellos der Grund gewesen. Aber man musste kein Ebenezer Scrooge sein, um zu wissen, dass es nicht nur böse Geister gab, sondern auch gute. Auf dem Weg zum Parkplatz blieb Dan stehen, drehte sich um und warf einen Blick auf das Dach der Welt. Er war nicht besonders überrascht, auf der Plattform einen Mann am zerbrochenen Geländer stehen zu sehen. Der Mann hob die Hand, durch die der Gipfel des Pawnee Mountain sichtbar war, und hauchte einen fliegenden Kuss, an den Dan sich aus seiner Kindheit erinnerte. Er erinnerte sich gut daran. Es war ihr spezieller Gruß am Ende des Tages gewesen.
Gute Nacht, Doc. Schlaf gut. Träum von ’nem Drachen, und erzähl mir morgen früh davon.
Dan wusste, dass er weinen würde, aber noch hielt er es zurück. Es war nicht die richtige Zeit dafür. Er hob die flache Hand zum Mund und erwiderte den Luftkuss.
Sein Blick ruhte noch eine kleine Weile auf dem, was von seinem Vater geblieben war. Dann ging er mit Billy zum Parkplatz hinab. Als sie dort angekommen waren, blickte er noch einmal zurück.
Das Dach der Welt war leer.
»FEAR steht für Face Everything And Recover
(Blicke allem ins Auge, und genese).«
Alter AA-Spruch
1
Das in Frazier an jedem Samstagmittag stattfindende AA-Treffen war eines der ältesten in New Hampshire. Es existierte seit 1946 und war von Fat Bob D. initiiert worden, der Bill Wilson, den Gründer des Programms, noch persönlich gekannt hatte. Nun lag Fat Bob schon lange im Grab, ein Opfer von Lungenkrebs – früher hatten die meisten genesenden Alkoholiker gequalmt wie Schlote und Neulinge regelmäßig zu hören bekommen, sie sollten erst mal die Klappe halten und die Aschenbecher ausleeren –, aber das Treffen war immer noch gut besucht. Heute waren sogar alle Plätze belegt, anschließend würde es Pizza und Blechkuchen geben. Das war bei fast allen Jubiläumstreffen so, und heute feierte einer der Teilnehmer fünfzehn Jahre Trockenheit. Früher war er unter dem Namen Dan oder Dan T. bekannt gewesen, aber inzwischen hatte sich herumgesprochen, was er im Hospiz leistete, deshalb nannte man ihn meistens Doc. Da seine Eltern ihn ebenfalls so genannt hatten, fand Dan diesen Spitznamen irgendwie komisch … aber auf gute Art und Weise. Das Leben war ein Rad, dessen einzige Aufgabe darin bestand, sich zu drehen, und es kehrte immer wieder zu seiner Ursprungsposition zurück.
Ein echter Doktor, er hieß John, führte auf Dans Bitte hin den Vorsitz, und das Treffen nahm seinen gewohnten Gang. Es gab Gelächter, als Randy M. erzählte, wie er dem Cop, von dem er bei seiner letzten Trunkenheitsfahrt festgenommen worden sei, auf die Uniform gekotzt habe, und weiteres Gelächter, als er fortfuhr, ein Jahr später habe er entdeckt, dass der Cop selbst am Programm teilnehme. Maggie M. weinte, als sie erzählte (oder, wie es im AA-Jargon hieß, mit den anderen teilte), dass man ihr erneut das gemeinsame Sorgerecht für ihre beiden Kinder verweigert habe. Man reagierte mit den üblichen Klischees – alles braucht seine Zeit; es klappt schon, wenn du es nur willst; gib nicht auf, bis das Wunder geschieht –, und schließlich beruhigte Maggie sich schniefend. Wie üblich rief jemand: Ausschalten, sagt die höhere Macht!, als ein Handy läutete. Eine Frau mit zittrigen Händen verschüttete eine Tasse Kaffee; es kam wirklich sehr selten vor, dass bei einem Treffen nicht mindestens eine Tasse verschüttet wurde.
Um zehn vor eins reichte John D. das Körbchen herum (»AA-Gruppen sollten sich vollkommen selbst erhalten durch freiwillige Spenden ihrer Mitglieder«) und fragte, ob es Ankündigungen gebe. Trevor K., der das Treffen eröffnet hatte, erhob sich und bat – wie immer – um Unterstützung beim Reinigen der Küche und beim Wegräumen der Stühle. Yolanda V. verteilte die fälligen Chips, diesmal zwei weiße (für vierundzwanzig Stunden) und einen violetten (für fünf Monate). Wie immer endete sie mit dem Spruch: »Wenn du heute nichts getrunken hast, dann klatsch dir und deiner höheren Macht Beifall!«
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