Sie drehte sich um – das konnte sie jetzt, da die Tür zu war, gefahrlos tun –, und bei dem, was sie in dem trüben Licht sah, das durch die Ritzen zwischen den alten Brettern drang, entfuhr ihrer normalerweise stillen Kehle ein Schrei. Während sie mit dem Geschehen draußen beschäftigt gewesen war, hatte sich eine Leiche zu ihr in den Werkzeugschuppen gesellt. Es war ein Mann, dessen grinsendes, raubtierhaftes Gesicht die feuchte, weißlich grüne Färbung einer verdorbenen Avocado hatte. Die Augen schienen fast aus ihren Höhlen herauszuhängen, und sein Anzug war mit Schimmelflecken übersät … aber das bunte Konfetti auf seinen Schultern war neu.
»Tolle Party, was?«, sagte er, und als er grinste, spalteten sich seine Lippen.
Sarey schrie wieder auf und hackte ihm die Sichel in die linke Schläfe. Das gebogene Blatt fuhr tief hinein und blieb stecken, aber es trat keinerlei Blut aus.
»Gib mir doch mal ’nen Kuss, Süße«, sagte Horace Derwent. Zwischen seinen Lippen kam der wackelnde weiße Überrest einer Zunge hervor. »Es ist schon lange her, dass ich mit einer Frau zusammen war.«
Während seine zerfetzten, vor Verwesung glänzenden Lippen sich auf die von Sarey pressten, schlossen seine Hände sich um ihre Kehle.
8
Rose sah, wie die Tür des Schuppens zuschwang, hörte den Schrei und begriff, dass sie nun wirklich allein war. Bald, wahrscheinlich schon in Sekunden, würde das Mädchen zurückkommen, und dann stand es zwei gegen eine. Das durfte sie nicht zulassen.
Sie blickte auf den Mann hinab und sammelte ihre ganze, vom Steam verstärkte Kraft.
(erwürg dich selber und zwar JETZT)
Seine Hände bewegten sich auf seine Kehle zu, aber zu langsam. Er kämpfte gegen Rose an, mit einem Erfolg, der sie rasend machte. Von dem kleinen Aas hätte sie Widerstand erwartet, aber der Tölpel da unten war ein Erwachsener. Das bisschen übrig gebliebener Steam in ihm hätte sie eigentlich beiseitewischen sollen wie einen Nebelhauch.
Dennoch setzte sie sich durch.
Seine Hände hoben sich zu seiner Brust … auf Schulterhöhe … und schließlich zu seiner Kehle. Dort hielten sie zitternd inne – Rose hörte den Mann vor Anstrengung keuchen. Sie verstärkte den Druck, und die Hände schlossen sich um die Kehle und drückten die Luftröhre zu.
(gut so du Bastard warum hast du dich eingemischt drück zu drück zu DRÜCK)
Etwas prallte auf sie auf. Keine Faust, eher fühlte es sich wie ein stark komprimierter Luftstoß an. Sie blickte sich um und sah nur ein Schimmern, das kurz vorhanden und dann wieder verschwunden war. Weniger als drei Sekunden lang war es da gewesen, aber das reichte aus, um ihre Konzentration zu stören, und als sie sich wieder dem Geländer zuwandte, war das Mädchen zurückgekehrt.
Diesmal war es kein Luftstoß, sondern es waren Hände, die sich gleichzeitig groß und klein anfühlten. Sie machten sich an ihrem unteren Rücken zu schaffen. Sie schoben. Das kleine Aas und sein Freund arbeiteten zusammen – genau das hatte Rose verhindern wollen. In ihrem Magen machte sich Entsetzen breit. Sie versuchte, vom Geländer zurückzuweichen, schaffte es jedoch nicht. Es bedurfte all ihrer Kraft, einfach stehen zu bleiben, und da kein Mitglied des Wahren Knotens mehr übrig war, das sie hätte unterstützen können, würde sie auch dazu nicht mehr lange in der Lage sein. Gar nicht mehr lange.
Wenn dieser Luftstoß nicht gekommen wäre … der weder der Mann noch das Mädchen gewesen war …
Eine der Hände löste sich von ihrem Kreuz und schlug ihr den Hut vom Kopf. Ob dieser Demütigung heulte Rose auf – niemand berührte ihren Hut, niemand! – und brachte einen Moment lang genügend Kraft auf, rückwärts vom Geländer weg in die Mitte der Plattform zu taumeln. Dann legten die beiden Hände sich wieder an ihr Kreuz und begannen erneut, sie vorwärtszuschieben.
Sie blickte hinunter zu den beiden. Der Mann hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich so stark, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten. An seinen Wangen rann Schweiß herab wie Tränen. Die Augen des Mädchens hingegen waren weit geöffnet und erbarmungslos. Sie starrte zu Rose hinauf. Und sie lächelte.
Rose stemmte sich mit aller Kraft dagegen, aber es war, als würde sie sich mit einer Steinmauer anlegen. Einer Mauer, die sie unerbittlich nach vorn ans Geländer drückte. Sie hörte es ächzen.
Einen Augenblick lang dachte sie daran, dem Mädchen ein Angebot zu machen. Ihr vorzuschlagen, gemeinsam einen neuen Knoten zu gründen. Damit Abra Stone tausend Jahre leben konnte, statt 2070 oder 2080 zu sterben. Oder zweitausend Jahre. Aber was hätte das geholfen?
Hatte es je einen Teenager gegeben, der sich nicht ohnehin schon unsterblich fühlte?
Statt zu verhandeln oder zu betteln, schleuderte sie den beiden ihren Trotz entgegen. »Zur Hölle mit euch! Zur Hölle mit euch beiden!«
Das furchtbare Lächeln des Mädchens wurde breiter. »Aber nicht doch«, sagte sie. »Wer zur Hölle fährt, bist du! «
Diesmal ächzte es nicht; es krachte wie ein Gewehrschuss, und dann stürzte Rose the Hat in die Tiefe.
9
Sie schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und begann sofort zu kreisen. Ihr Kopf saß schräg ( wie ihr Hut, dachte Dan) auf ihrem zertrümmerten Hals, was fast keck aussah. Dan hielt Abras Hand und spürte, wie diese sich abwechselnd bildete und verschwand, während Abra zwischen der Treppe ihres Elternhauses und dem Dach der Welt hin- und herwechselte. Gemeinsam beobachteten sie, was geschah.
»Na, tut es weh?«, fragte Abra die Sterbende. »Das hoffe ich jedenfalls. Ich hoffe, es tut anständig weh.«
Die Lippen von Rose verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. Ihre menschlichen Zähne waren verschwunden; geblieben war nur der einzelne, verfärbte Hauer. Darüber schwebten ihre entkörperlichten Augen wie lebendige blaue Steine. Dann war sie verschwunden.
Abra wandte sich Dan zu. Sie lächelte immer noch, doch nun war keinerlei Zorn oder Gemeinheit mehr in ihrem Blick.
(ich hatte Angst um dich ich hatte Angst sie könnte)
(das hat sie fast geschafft aber da war etwas)
Er deutete auf die Stelle, wo hoch über ihnen die zerbrochenen Enden des Geländers in den Himmel ragten. Abra blickte hinauf, dann sah sie Dan verdutzt an. Er konnte nur den Kopf schütteln.
Nun war sie an der Reihe, ihm etwas zu zeigen, aber sie zeigte nicht nach oben, sondern auf den Boden.
(es lebte einst ein Magier der einen Hut wie den da hatte er hieß Mysterio)
(und du hast Löffel an die Decke gehängt)
Abra nickte, ohne den Kopf zu heben. Sie betrachtete immer noch den Zylinder.
(den musst du vernichten)
(aber wie)
(verbrenn ihn Billy behauptet zwar er raucht nicht mehr aber das stimmt nicht ich hab’s in seinem Wagen gerochen also hat er vielleicht Streichhölzer)
»Du musst es unbedingt tun«, sagte sie. »Ja? Versprichst du’s mir?«
»Ja.«
(ich hab dich lieb Onkel Dan)
(ich dich auch)
Sie umarmte ihn. Er legte die Arme um sie und erwiderte die Umarmung. Während er das tat, wurde ihr Körper zu Regen. Dann zu Dunst. Dann war er verschwunden.
10
Auf der Hintertreppe ihres Elternhauses in Anniston, New Hampshire, mitten in der Dämmerung, die bald zur Nacht werden würde, richtete Abra sich auf, kam auf die Beine und schwankte, als wollte sie gleich in Ohnmacht fallen. Aber es bestand keine Gefahr, dass sie zu Boden stürzte; ihre Eltern waren sofort bei ihr. Gemeinsam trugen sie sie in die Küche.
»Alles in Ordnung«, sagte Abra. »Ihr könnt mich runterlassen.«
Das taten sie, wenn auch vorsichtig. David Stone blieb neben ihr, um sie beim leichtesten Wackeln ihrer Knie aufzufangen, aber sie blieb sicher stehen.
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