»Wenn es nur unserer Phantasie entspränge, hätte ich dem Abend längst schon attraktivere Seiten abgewonnen«, sagte O’Connor mit eindeutigem Funkeln in den Augen. »Natürlich ist alles blasse Theorie, aber wozu kommt Paddy in einem solchen Affenzahn herbeigerauscht, nur um mich darüber aufzuklären, dass ich ihn vergessen soll? Seine Geschichte geht auf tausend Krücken. Er hätte nie aus freien Stücken so gehandelt! Aber jemand sagt ihm, Paddy, alter Unglücksrabe, das ist eine dumme Sache, war nicht vorgesehen. Gar nicht opportun, dieser O’Connor. Geh hübsch hin und sag ihm, er soll dich um Himmels Willen nicht verraten und dir die Zukunft vermasseln, gefallener Engel, der du bist, voll der edelsten Absichten, dem Bösen abhold und einzig darauf erpicht, ein ehrbares Leben zu führen. Seif den Kerl gehörig ein. Aber so was kann der gute Paddy eben nicht. Er steht vor mir und bringt es nicht fertig, Small Talk zu machen. Er weiß schlicht und einfach nicht, was er sagen soll, also sagt er die Wahrheit. Warum er abgerutscht ist. Was schief gelaufen ist. Er redet sich die Vergangenheit von der Seele und sagt viel zu viel. Schließlich hat er das Gegenteil von dem erreicht, was seine Einflüsterer beabsichtigen. Ich misstraue ihm. Ich denke, Paddy, du armseliger Idiot, jemand hat dich hergeschickt, um mich einzulullen. Und warum? Damit ich euch in Ruhe das zu Ende bringen lasse, weswegen ihr hier seid.«
»Gut«, sagte Wagner. »Wenn du der unbedingten Überzeugung bist, Clohessy und irgendwelche ominösen Drahtzieher hätten den Flughafen infiltriert, was schließt du dann daraus?«
»Ich weiß nicht. Wer landet hier alles in den nächsten Tagen?«
»Clinton«, sagte Kuhn, an seinen Fingern abzählend. »Morgen Abend, soweit ich weiß. Außerdem die Japaner. Möglicherweise Kanada.«
»Alle morgen?«
Kuhn zog die Brauen zusammen.
»Ja, ich denke schon. Jelzin erwarten sie übermorgen, glaube ich. Immer vorausgesetzt, er schafft es die Gangway runter.«
»So krank?«, fragte Wagner.
»So betrunken«, warf O’Connor ein. »Vorletztes Jahr in Dublin stand seine Maschine geschlagene drei Stunden auf dem Rollfeld. Der Taoiseach wartete, dass Boris Nikolajewitsch irgendwann zum Vorschein kommen würde, aber der balgte sich im Delirium mit seinem Leibwächter. Schließlich hob der Flieger wieder ab. Das Ehrenbataillon ging unverrichteter Dinge vom Rollfeld, und der Premier verlernte seinen russischen Begrüßungssatz.«
»Eine präzise Schilderung Jelzin’scher Staatskunst«, nickte Kuhn und rülpste. »Pardon auch. Ich glaube, die Japaner kommen doch erst am Neunzehnten. Oder? Halt, viel wichtiger, die First Lady! Die kommt am Neunzehnten, definitiv. Hillary und Billiboys herangewachsener Samen.«
»Chelsea? Du lieber Gott. Die ganze heilige Familie.«
»America, the beautiful!«, skandierte Kuhn. »Ach ja, Miss Albright nicht zu vergessen.«
»Das reicht jetzt«, sagte Wagner. »Liam, die Sache ist ganz einfach. Geh zur Polizei und sag ihnen, was los ist.«
Er brütete eine Weile über ihren Worten.
»Und wenn wir uns irren?«
»Keine Ahnung. Wenn wir uns irren, passiert gar nichts. Dann hat er sich eben nichts zuschulden kommen lassen.«
»Wir aber, Kika. Wir haben seine Identität auffliegen lassen.«
»Moment! Du hast selbst gesagt…«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Du hast ja Recht! Aber ich bin nicht sicher, ob ich das alles richtig sehe. Du darfst nicht vergessen, dass ich ein extrem gelangweilter Mensch bin. Ich pflege mir Unsinn einzubilden und aufzuschreiben, womit ich Millionen verdiene. Es wäre ungerecht, wenn Paddy im Gegenzug seinen Job verlieren würde.«
Wagner starrte ihn an.
»Ich glaub’s einfach nicht! Wofür machst du diese Welle, wenn dann doch alles nur Blödsinn war?«
»War’s ja nicht!«
Erstmals, seit sie sich kannten, erschien ihr O’Connor plötzlich hilflos. Der Eindruck war so überwältigend, dass Wagner sich außerstande sah, wütend auf ihn zu sein. Sie griff nach ihrem Whisky und trank.
»Wo wohnt dieser Paddy, der Ryan heißt und was weiß ich noch, wie?«
»Gute Frage.«
»Freut mich, dass sie deine Billigung findet.«
O’Connor kniff die Augen zusammen.
»Worauf willst du hinaus?«
»Wir machen jetzt zur Abwechslung mal Ernst, darauf will ich hinaus. Ich meine, morgen geht hier wieder das Theater mit den Staatsbesuchen los. Und da ist Paddy. Gut möglich, dass er tatsächlich nur in aller Stille sein neues Leben leben möchte. Ebenso gut möglich…«
Sie stockte. Nein, dachte sie, das ist absurd. In solche Situationen schlittern keine Menschen aus dem wirklichen Leben. So was ist Filmfiguren vorbehalten. Wir nehmen uns nur wichtig. Wir spielen Krimi, dabei sollte Kuhn seinen Cognac bezahlen und aufs Zimmer gehen, und ich sollte mit Liam die deutsch-irische Freundschaft vertiefen.
O’Connor hatte das Kinn auf die Handknöchel gestützt und betrachtete sie mit seinen weiß schimmernden Augen. Erneut kam es ihr vor, als erstrahle das Blau der Iris in all dem Weiß noch intensiver, wenn er nachdachte. Ihr ganzer Körper begann zu schmelzen, und heftiges Verlangen überkam sie, sich bei ihm anzulehnen und sich in ihm zu vergraben.
Keine Zeit für Shannonbridge.
Sie holte Luft und hob das Kinn.
»Ebenso gut möglich«, sagte sie sehr bestimmt, »dass er aus dem Grund am Flughafen ist, ein Verbrechen zu begehen. Und dass es etwas mit dem bevorstehenden Gipfel zu tun hat.«
»Uff«, sagte Kuhn.
O’Connor sah sie unverwandt an.
»Was schlägst du also vor?«, fragte er.
»Nun ja…« Sie hob die Brauen. »Wenn er hier arbeitet, wird er wohl auch irgendwo in Köln wohnen. Ein Mister O’Dea müsste sich also aufspüren lassen. Wir fahren einfach hin und sehen nach, ob er zu Hause ist. Falls nicht, warten wir, bis er kommt. Du redest mit ihm. Zweite Runde. Diesmal gefällst du dir nicht in rhetorischen Standardtänzen, sondern bietest ihm deine Hilfe an. Wenn du danach immer noch der Meinung bist, Paddy habe irgendwelche Lumpereien im Sinn, verständigen wir die Bullen. Falls nicht, dann…«
O’Connor grinste.
»Shannonbridge.«
»Und zwar das volle Programm.«
Er sah auf die Uhr. Es war 23.30 Uhr. Janas Worte schmeichelten sich immer noch durch sein Hirn, zwanzig Minuten nachdem er mit ihr über die Kommunikationseinheit gesprochen hatte, die sie FROG nannten und die mit einem Codierungs-Decodierungs-System arbeitete. Äußerlich sahen die FROGs in nichts anders aus als Motorola-Handys, bis hin zum Schriftzug, aber Gruschkow hatte außer dem Code-Chip noch einige andere Extras eingebaut. Mirko und Jana etwa konnten über ihre FROGs die der anderen in der Gruppe abhören, selbst wenn diese ausgeschaltet waren.
»Ich habe ihn getroffen«, hatte er sie atemlos wissen lassen, während er noch am Rheinufer stand und O’Connor eben hinter dem Komplex des Maritim verschwunden war. »Ich habe ihm alles so gesagt, wie wir es vereinbart hatten. Wir müssen uns keine Sorgen mehr machen.«
»Er hat dir geglaubt?«
»O’Connor kennt mich, er–«
»Keine Namen.«
»Verdammt! Tut mir leid. Ja, er hat alles geglaubt. Er würde keinen Freund verraten.«
Jana hatte einen Moment lang geschwiegen.
»Gut. Sehr gut.« Ihre Stimme konnte erschreckend kalt klingen oder weich und angenehm. Jetzt hatte sie beinahe etwas Einschläferndes. »Ich bin froh, das zu hören. Dann gute Nacht.«
»Ja. Gute Nacht.«
Clohessy verlangsamte seinen Wagen und bog in die Straße ein, in der er seit einem knappen halben Jahr Quartier bezogen hatte. Sein Atem ging stoßweise. Zwischen seinen Handflächen und dem Kunststoff des Steuers hatte sich eine dünne Schicht aus Feuchtigkeit gebildet. Dafür war seine Kehle so trocken wie ein ausgedorrter Brunnen.
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