160 Kilometer nördlich von Moskau
Seit drei Tagen hatte Anatoli Brodsky nicht geschlafen. Er war so müde, dass selbst die einfachsten Verrichtungen ihm Konzentration abverlangten. Das Scheunentor vor ihm war verschlossen. Er wusste, er würde es aufbrechen müssen, aber trotzdem kam ihm der Gedanke weit hergeholt vor. Er hatte einfach nicht die Kraft. Es hatte angefangen zu schneien. Anatoli schaute in den nächtlichen Himmel. Seine Gedanken schweiften ab, und als er endlich wieder wusste, wo er war und was er zu tun hatte, sammelte sich schon der Schnee auf seinem Gesicht. Er leckte sich die Flocken von den Lippen, und ihm wurde klar, dass er, wenn er dort nicht hineinkam, sterben würde. Er nahm sich zusammen und trat gegen die Tür. Die Scharniere klapperten, aber das Tor blieb zu. Er trat noch einmal zu. Holz splitterte. Das Geräusch ermutigte ihn, er sammelte seine letzten Kräfte für einen dritten Fußtritt, diesmal gegen das Schloss. Das Holz brach und das Tor schwang auf. Anatoli stand im Eingang, seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Auf einer Seite der Scheune standen in einem Verschlag zwei Kühe, auf der anderen lagen Werkzeuge und Stroh. Er breitete ein paar grobe Säcke auf dem gefrorenen Lehmboden aus, knöpfte den Mantel zu und legte sich hin. Dann kreuzte er die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
***
Von seinem Schlafzimmerfenster aus konnte Michail Zinowjew sehen, dass das Scheunentor offen stand. Es schwang im Wind hin und her und Schnee wirbelte in die Scheune. Er wandte sich um. Seine Frau lag im Bett und schlief. Er beschloss, sie nicht zu stören, zog sich leise den Mantel und die Fellstiefel über und ging hinaus.
Der Wind war stärker geworden, fegte lockeren Schnee vom Boden auf und peitschte ihn Michail ins Gesicht. Er hob die Hand und beschirmte die Augen. Während er sich der Scheune näherte, linste er durch seine Finger und sah, dass das Schloss aufgebrochen und das Tor eingetreten worden war. Er spähte hinein, und nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit des Raumes gewöhnt hatten, erkannte er die Umrisse eines Mannes, der im Stroh auf dem Boden lag. Ohne zu wissen, was er eigentlich tun sollte, betrat Michail die Scheune, griff nach einer Mistgabel und näherte sich der schlafenden Gestalt. Er hielt die Zinken stoßbereit über den Bauch des Mannes.
Anatoli öffnete die Augen und sah nur Zentimeter vor seinem Gesicht auf schneebedeckte Fellstiefel. Er rollte sich auf den Rücken und blickte zu dem Mann hoch, der über ihm aufragte. Direkt über seinem Bauch befanden sich die Zinken einer Mistgabel, sie zitterten. Keiner der beiden rührte sich. Ihr Atem verwandelte sich vor den Gesichtern in einen Nebel, der hervorkam und wieder verschwand. Anatoli versuchte nicht, nach der Mistgabel zu greifen. Er versuchte auch nicht, sich vom Fleck zu rühren.
So verharrten sie wie eingefroren, bis Michail ein Schamgefühl überkam. Er sog durch die Zähne die Luft ein, als hätte eine unsichtbare Kraft ihm einen Hieb in den Magen versetzt, ließ die Mistgabel achtlos zu Boden fallen und sank auf die Knie. »Bitte vergib mir.«
Anatoli setzte sich auf. Das Adrenalin hatte ihn hellwach gemacht, aber sein Körper schmerzte. Wie lange hatte er geschlafen? Nicht lange. Nicht lange genug. Seine Stimme war heiser, die Kehle trocken. »Das verstehe ich schon. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte dich nicht um Hilfe bitten sollen. Du musst an deine Familie denken. Ich habe dich in Gefahr gebracht. Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten sollte.«
Michail schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst. Ich bin in Panik geraten. Verzeih mir.«
Anatoli warf einen Blick hinaus in die Dunkelheit und den Schnee. Jetzt konnte er nicht weg. Das würde er nicht überleben. Natürlich konnte er sich keinen Schlaf erlauben, aber trotzdem brauchte er ein Dach über dem Kopf. Michail wartete auf eine Antwort, auf Vergebung.
»Da gibt es nichts zu verzeihen. Dich trifft keine Schuld. Ich hätte vielleicht dasselbe gemacht.«
»Aber du bist mein Freund.«
»Ich bin immer noch dein Freund, und ich werde auch immer dein Freund bleiben. Hör mir zu. Ich will, dass du alles vergisst, was heute Abend passiert ist. Vergiss, dass ich je hier war. Vergiss, dass ich dich um Hilfe gebeten habe. Behalt uns in Erinnerung, wie wir früher waren. Behalt uns als beste Freunde in Erinnerung. Tu es für mich und ich tue dasselbe auch für dich. Sobald es hell wird, bin ich weg. Versprochen. Du wirst aufwachen und dein Leben ganz normal weiterleben. Ich versichere dir, niemand wird jemals erfahren, dass ich hier war.«
Michail ließ den Kopf sinken. Er weinte. Bis zu diesem Abend hatte er geglaubt, dass er alles für seinen Freund tun würde. Das war Selbstbetrug gewesen. Loyalität, Kühnheit, Freundschaft - all das hatte sich als brüchig erwiesen. Bei der ersten Belastungsprobe war es zerbröckelt.
Als Anatoli an diesem Abend überraschend auftauchte, war Michail verständlicher Weise ein wenig überrumpelt gewesen. Anatoli war ohne Vorankündigung in sein Dorf gekommen, das 160 Kilometer nördlich von Moskau lag. Trotzdem hatte man ihn freundlich empfangen, ihm zu essen und zu trinken gegeben und ein Bett bereitet. Als seine Gastgeber dann erfahren hatten, dass er nach Norden unterwegs war, zur finnischen Grenze, da begriffen sie plötzlich den Grund für sein plötzliches Auftauchen. Dass er von der Staatssicherheitspolizei, dem MGB, gesucht wurde, erwähnte er mit keinem Wort. Er musste es auch gar nicht, das war ihnen schon so klar. Er war ein Flüchtling. Sobald ihnen das bewusst wurde, war es mit dem freundlichen Empfang vorbei. Auf Beihilfe zur Flucht stand die Todesstrafe. Anatoli wusste das, aber er hatte gehofft, dass sein Freund das Risiko auf sich nehmen würde. Er hatte sogar gehofft, dass Michail ihn nach Norden begleiten würde. Nach zwei Leuten suchte der MGB nicht, und außerdem hatte Michail bis hoch nach Leningrad in jeder Stadt Bekannte, einschließlich Twer und Gorki. Es war natürlich viel verlangt, aber schließlich hatte Anatoli Michail einmal das Leben gerettet. Zwar hatte er nie das Gefühl gehabt, als stünde der andere damit in seiner Schuld, aber nur deshalb, weil es ihm nie in den Sinn gekommen war, diese Schuld eines Tages einfordern zu müssen.
Im Verlauf ihrer Unterredung war schnell klar geworden, dass Michail nicht bereit war, ein derartiges Risiko auf sich zu nehmen. Besser gesagt, er wollte überhaupt kein Risiko auf sich nehmen. Des Öfteren hatte seine Frau das Gespräch unterbrochen, weil sie mit ihrem Mann unter vier Augen reden wollte. Und bei jeder Unterbrechung hatte sie Anatoli mit unverhohlenem Abscheu angefunkelt. Er sah ja ein, dass man unter den gegebenen Umständen stets wachsam und vorsichtig sein musste, und es war nicht zu leugnen, dass er die Familie seines Freundes in Gefahr brachte, eine Familie, die er liebte. Also schraubte er seine Erwartungen drastisch zurück und erklärte Michail, er wolle lediglich eine Nacht in ihrer Scheune schlafen. Morgen früh wäre er verschwunden. Er würde sich querfeldein zum nächsten Bahnhof durchschlagen, demselben, an dem er auch angekommen war. Außerdem hatte er vorgeschlagen, das Schloss der Scheune aufzubrechen. Falls er dann unerwarteterweise doch geschnappt wurde, konnten sie unwissend tun und behaupten, dass jemand eingedrungen sei. Er hatte gehofft, diese Vorkehrungen würden seine Gastgeber beruhigen.
Anatoli konnte es nicht ertragen, seinen Freund weinen zu sehen. Er rückte näher heran. »Es gibt nichts, wofür du dich schuldig fühlen musst. Wir versuchen doch alle nur zu überleben.«
Michail hörte auf zu weinen. Er wischte sich die Tränen ab und sah auf. Die beiden Freunde wussten, dass sie sich jetzt zum letzten Mal in ihrem Leben sahen, und sie umarmten sich.
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