Vor Scham brachte sie die Worte kaum hervor. Äußerlichen Gefühlsbezeugungen war zwar niemals wirklich zu trauen, aber Leos Instinkt sagte ihm, dass sie gerade einen Verrat beging. Er riss den belastenden Bogen von seinem Notizblock und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn als Blutgeld an. In ihren Augen sah er den Abscheu. Er ließ es nicht an sich heran.
Der Name des Bauerndorfes nördlich von Moskau war eine dürftige Spur. Wenn Brodsky wirklich als Spion arbeitete, war es wahrscheinlicher, dass er von den Leuten versteckt wurde, für die er tätig war. Seit langem war der MGB davon überzeugt, dass es ein Netz sicherer Häuser gab, die vom Ausland unterhalten wurden. Die Idee, dass ein aus dem Ausland unterstützter Verräter sich bei einem persönlichen Bekannten verbarg, einem Kolchosbauern, passte überhaupt nicht in das Bild eines professionellen Spions. Und trotzdem war Leo sich sicher, dass er diese Spur verfolgen sollte. Er wischte die Ungereimtheiten beiseite. Sein Auftrag war, diesen Mann zu fassen. Außerdem war es der einzige Hinweis, den er hatte. Seine Unentschlossenheit war ihn schon teuer genug zu stehen gekommen.
Er eilte zum draußen geparkten Lastwagen und las sich noch einmal den Fallbericht durch, auf der Suche nach einem Hinweis, der auf das Dorf Kimow deutete. Wassili Iljitsch Nikitin, der zweite Befehlshabende, unterbrach ihn. Er war 35 Jahre alt, also etwa fünf Jahre älter als Leo, und einst einer der vielversprechendsten Offiziere im MGB gewesen. Rücksichtslos und ehrgeizig. Seine einzige Loyalität galt dem MGB. Insgeheim vermutete Leo, dass es sich dabei weniger um Patriotismus als vielmehr um Eigeninteresse handelte. Schon in seiner Anfangszeit als Ermittler hatte Wassili seine Hingabe dadurch unter Beweis gestellt, dass er seinen einzigen Bruder wegen antistalinistischer Bemerkungen denunziert hatte. Offenbar hatte der Bruder sich auf Stalins Kosten einen Scherz erlaubt. Er hatte an dem Tag seinen Geburtstag gefeiert und war betrunken gewesen. Wassili hatte einen Bericht verfasst, und den Bruder hatte man zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt. Die Verhaftung war so lange zu Wassilis Vorteil gewesen, bis der Bruder drei Jahre später ausgebrochen war und dabei mehrere Wachen und den Lagerarzt umgebracht hatte. Er war nie gefasst worden, und die Schmach hing Wassili an. Hätte er nicht fieberhaft die Suche nach dem Flüchtigen unterstützt, hätte es ihn möglicherweise ganz die Karriere gekostet. So aber hatte er weitermachen dürfen, allerdings erheblich gestutzt. Da er keine weiteren Brüder hatte, die er denunzieren konnte, war Leo sich sicher, dass sein Stellvertreter auf der Suche nach anderen Möglichkeiten war, um sich wieder einzuschmeicheln.
Gerade hatte Wassili die Durchsuchung der Tierarztpraxis beendet und war offenkundig mit sich zufrieden. Er reichte Leo einen zerknitterten Brief, den er, wie er berichtete, eingeklemmt hinter dem Schreibtisch des Verräters gefunden hatte. Während sämtliche anderen Briefe genau wie die in der Wohnung verbrannt worden waren, hatte der Verdächtige diesen in der Eile übersehen. Leo las ihn. Der Brief stammte von einem Freund, der ihn wissen ließ, dass er jederzeit bei ihm wohnen könne. Die Adresse war teilweise verschmiert, aber der Name der Stadt war deutlich zu lesen: Kiew. Leo faltete den Brief zusammen und reichte ihn seinem Stellvertreter. »Das hat Brodsky selbst geschrieben. Kein Freund. Er wollte, dass wir ihn finden. Er ist nicht auf dem Weg nach Kiew.«
Der Brief war in aller Eile geschrieben worden. Die Handschrift war uneinheitlich und nur schlecht verstellt. Der Inhalt war lachhaft und lediglich dazu da, den Leser davon zu überzeugen, dass der Verfasser ein Freund war, an den Brodsky sich in der Stunde der Not wenden konnte. Die Adresse war mit Absicht verschmiert worden, um eine schnelle Identifizierung des echten Adressinhabers zu verhindern, und damit ein Beweis, dass der Brief eine Fälschung war. Und sein Fundort - hinter den Schreibtisch gerutscht - roch ebenfalls nach einer Inszenierung.
Wassili verwahrte sich dagegen, dass der Brief nicht echt sein könnte. »Es wäre nachlässig, die Kiew-Spur nicht gewissenhaft zu prüfen.«
Leo war sich zwar sicher, dass der Brief eine Fälschung war. Aber vielleicht war es ja gar nicht so dumm, Wassili als Vorsichtsmaßnahme nach Kiew zu schicken. So wappnete er sich gegen jedwede Anschuldigungen, Beweise unterdrückt zu haben. Er verwarf den Gedanken wieder. Es spielte gar keine Rolle, wie er die Ermittlungen durchführte. Wenn es ihm nicht gelang, den Verdächtigen zu finden, war seine Karriere am Ende.
Leo wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bericht zu. Nach Aktenlage war Brodsky mit einem Mann namens Michail Swjatoslawitsch Zinowjew befreundet. Diesen hatte man wegen schwerer Erfrierungen aus der Roten Armee entlassen. Er war schon dem Tode nah gewesen, als man ihm mehrere Zehen amputiert und ihn danach wieder hochgepäppelt hatte. Die Operation hatte Brodsky durchgeführt. Leo fuhr mit dem Finger über das Dokument und suchte nach der aktuellen Adresse. Kimow. Er wandte sich zu seinen Männern um und registrierte Wassilis mürrischen Gesichtsausdruck. »Wir rücken aus.«
30 Kilometer nördlich von Moskau
Die Straßen aus Moskau heraus waren mit vereistem Matsch bedeckt, und obwohl die Reifen des Lasters Schneeketten hatten, waren sie kaum über 25 Kilometer pro Stunde hinausgekommen. Wind und Schnee fegten mit solcher Heftigkeit um sie herum, als hätten sie ein persönliches Interesse daran, dass Leo sein Ziel nicht erreichte. Die am Dach der Fahrerkabine befestigten Scheibenwischer hatten Mühe, wenigstens ein winziges Fleckchen des Fensters freizuhalten. Bei einer Sichtweite von weniger als zehn Metern kämpfte sich der Laster vor. Und es war nur Leos schiere Verzweiflung, die ihn unter derartigen Bedingungen eine solche Fahrt wagen ließ.
Leo hockte vornübergebeugt neben Wassili und dem Fahrer, auf dem Schoß hatte er verschiedene Karten ausgebreitet. Alle drei trugen sie Mäntel und Handschuhe, als befänden sie sich im Freien. Die Fahrerkabine mit ihrem eisernen Dach und Boden wurde nur vor der Restwärme des ratternden Motors angeheizt, aber wenigstens hielt sie das Wetter ab. Seine neun bis an die Zähne bewaffneten Agenten im Heck reisten weniger luxuriös. Die ZiS-151-Laster hatten nur eine Plane, durch die kalte Luft und sogar Schnee eindrang. Nachdem man festgestellt hatte, dass die Temperaturen dort hinten bis auf minus 30 Grad fallen konnten, war das Heck aller ZiS-151 mit Holzöfen ausgestattet worden, die man auf der Ladefläche verschraubt hatte. Doch dieses Scheingerät wärmte nur die, die so nah saßen, dass sie es beinahe berührten, was die Männer dazu zwang, sich zusammenzukauern und regelmäßig zu rotieren. Leo hatte oft genug selbst dahinten gesessen.
Alle zehn Minuten waren die beiden jeweils am nächsten Sitzenden langsam, aber beharrlich von ihrem Platz verdrängt und in die kälteste Ecke ganz am Ende der Sitzbänke verbannt worden, während die restliche Mannschaft nachrückte.
Zum ersten Mal spürte Leo bei seiner Mannschaft inneren Widerstand. Die Gründe waren aber nicht die widrigen Umstände oder der Schlafmangel. Daran waren die Männer gewöhnt. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Vielleicht die Tatsache, dass man die Mission hätte vermeiden können. Vielleicht glaubten sie nicht an die Kimow-Spur. Auch früher hatte er seine Männer schon um ihr Vertrauen gebeten, und sie hatten es ihm geschenkt. Heute Abend spürte er eine unterschwellige Feindseligkeit, einen Widerstand. Außer von Wassili war er das nicht gewohnt. Er schob den Gedanken beiseite. Seine Beliebtheit war im Moment sein geringstes Problem.
Wenn seine Theorie stimmte, wenn der Verdächtige in Kimow war, dann hielt Leo es für wahrscheinlich, dass er sich beim ersten Tageslicht auf den Weg machen würde, entweder allein oder mit Hilfe seines Freundes. Leo setzte darauf, dass sie das Dorf rechtzeitig erreichten, aber es blieb ein Risiko. Er hatte sich dagegen entschieden, die in Sagorsk stationierte örtliche Miliz in Marsch zu setzen, weil sie seiner Ansicht nach unprofessionell, undiszipliniert und schlecht ausgebildet war. Selbst den örtlichen MGB-Divisionen konnte man bei so einer Operation nicht trauen. Da Brodsky schon wusste, dass man ihn suchte, würde er sich kaum ergeben. Vielleicht würde er auf Leben und Tod kämpfen. Aber man musste ihn lebend fassen. Sein Geständnis war von allergrößter Bedeutsamkeit. Außerdem hatte seine Flucht Leo beschämt, und er war entschlossen, ihm das heimzuzahlen. Er würde ihn höchstpersönlich verhaften. Es ging hier nicht nur um Stolz und die Tatsache, dass seine Karriere von dem Erfolg der Aktion abhing. Die Konsequenzen würden tiefgreifender sein.
Читать дальше