Eines Tages dann erschien Dr. Siri auf der Bildfläche, erlöste Dtui aus ihrer Fron auf der Station und brachte frischen Wind und neues Leben in die Pathologie. Die beiden konnten und mochten auf Geungs Sachkenntnis nicht verzichten, und so wuchsen sie schon bald zu einem echten Team zusammen. Auch wenn man sie schwerlich als Profis bezeichnen konnte. Siri war zwar sein Leben lang Chirurg gewesen, hatte aber noch nie einen Leichnam obduziert und in dieser Hinsicht eigentlich auch keine Ambitionen. Er harrte der Pension, die er sich verdient zu haben glaubte, und stand einem beruflichen Neuanfang zunächst äußerst skeptisch gegenüber. Im ersten Jahr forschten und studierten sie am leblosen Objekt. Und da sie weder über ein Labor noch über moderne Instrumente, geschweige denn aktuelle Lehrbücher verfügten, war die Pathologie der Mahosot-Klinik manchmal noch heute Schauplatz wildester Experimente. Wäre Siris Gabe – sprich seine Fähigkeit, mit den Geistern der Toten in Kontakt zu treten – nicht gewesen, wäre ihnen zweifellos der eine oder andere schwere Fehler unterlaufen.
Ihre gemeinsamen Erfahrungen hatten die drei Kollegen eng zusammengeschweißt. Für Geung war Dtui eine Schwester und Siri ein Großvater. Obwohl er seine Gefühle nicht erklären konnte, liebte er die beiden über alles. Selbst wenn er nicht recht begriff, was los war, litt er mit ihnen. Er freute sich über ihre Siege, er beweinte ihre Niederlagen – und registrierte mit der Präzision eines Luftschiffbarometers, wie es um die beiden bestellt war. Sie vertrauten ihm, und seine Ehrlichkeit bewahrte ihn davor, leere Versprechungen zu machen. Auf Geung war bisher immer Verlass gewesen: Wenn er eine Verpflichtung einging, war es ihm oberstes Gebot, sie auch zu erfüllen. Darum hatte Genosse Dr. Siri ihm vor ihrer Abreise das Versprechen abgenommen, die Pathologie bis zu ihrer Rückkehr sorgsam zu hüten.
Während der Abwesenheit des Doktors gab es für ihn nicht allzu viel zu tun. Das Krankenhaus konnte höchstens zwei Leichen auf einmal aufnehmen. Geungs Aufgabe bestand darin, sie in der einzigen vorhandenen Kühlkammer wie in einem Etagenbett übereinanderzustapeln. Mit einem plötzlichen Massenandrang von obduktionsbedürftigen Leichen war kaum zu rechnen. Zwar grassierte im Vientiane-Becken eine Dengue-Epidemie, doch wie die ihr todbringendes Werk vollbrachte, war kein Geheimnis: Fieber, Erschöpfung, Blutungen, Exitus. Die Pathologie war lediglich für rätselhafte Todesfälle an den staatlichen Krankenhäusern zuständig sowie für die Mordopfer, die ihr bisweilen von der Polizei überstellt wurden.
Wenn sie einen Fall hereinbekamen, war Herr Geung unentbehrlich. Aber da er nicht über die erforderliche Qualifikation verfügte, durfte er seine Arbeit nur im Beisein eines Arztes verrichten. Und so beschränkte sich seine Tätigkeit derzeit darauf, zu fegen, Staub zu wischen, Schaben zu verscheuchen und das Büro zu bewachen. Er nahm seine Aufgabe ernst; er hatte sogar Decken und Kissen aus seiner Kammer mitgebracht und war fest entschlossen, im Seziersaal Posten zu beziehen.
Er war die Friedfertigkeit in Person. Gefühle wie Wut und Zorn waren ihm fremd, und er konnte sie auch nicht heucheln. Er wirkte in etwa so furchteinflößend wie ein chinesischer Teigkloß. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er die beiden Uniformierten, die mit einem Mal in die Pathologie platzten und unwirsch seinen Namen brüllten, mit einem Lächeln begrüßte, das in dem Moment verflog, als er ihre Waffen erblickte.
»Wa… wa… was kann ich für Sie tun, G… Genossen?«, fragte er.
Sie richteten ihre Pistolen auf ihn und drückten ab. Herr Geung machte ein verdutztes Gesicht. Dann fiel er zu Boden wie eine reife Jackfrucht vom gleichnamigen Baum.
Der mitreißende Refrain des vom Präsidenten eigenhändig verfassten Patriotischen Arbeitsliedes Nr. 17 – »Wir wollen jäten für die Republik« – schreckte Siri aus seinen Morgengedanken.
»Du liebe Zeit.«
Ächzend und mit knackenden Knochen setzte sich der Doktor auf und streckte die Beine unter dem Moskitonetz hindurch. Falls er geschlafen hatte, konnte er sich nicht daran erinnern. Nach dreiundsiebzig Lebensjahren war die Zeit für ihn zu einem kostbaren Gut geworden, und er hatte soeben sechs Stunden verschenkt, ohne etwas dafür bekommen zu haben. Er rappelte sich hoch und wankte tapsig wie ein neugeborener Welpe zum Fenster.
Durch den Spalt in den grünen Nylonvorhängen sah er die singenden Polizisten mit geschulterten Spaten und Hacken auf die Ladefläche eines Armeetransporters klettern. Auch wenn die Wärter Abstand wahrten und ihre Dienstwaffen gesenkt hielten, wirkten sie deshalb nicht minder bedrohlich. Das Schrillen einer Trillerpfeife diktierte jede Bewegung. Die Gefangenen standen Augen geradeaus, und der Transporter setzte sich in Bewegung und holperte langsam den Feldweg entlang. Das Lied entschwand samt Sängern in den Nebel. Die Felsspitzen und die tiefhängenden grauen Wolken liefen ineinander wie auf einem chinesischen Aquarell.
Siri stellte sich unter den kalten Wasserstrahl in der Gemeinschaftsdusche. Abgestandenes, nach Karbol und Erde stinkendes Wasser quoll zwischen den losen Fliesen unter seinen Fußsohlen hervor. Er zog sich an und kam auf dem Weg zum Frühstück an dem Wachposten vorbei, der einsam und allein auf einem Klappstuhl vor der Sperrholzwand saß und dumpf vor sich hin döste.
»Wohlsein«, wünschte Siri, erhielt jedoch keine Antwort.
Der Speisesaal beherbergte zehn wacklige, ungedeckte Tische, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien von Helden der Revolution – und Dtui.
»Morgen, Doc.«
»Guten Morgen. Wie lange sitzen Sie schon hier?«
»Eine knappe Stunde. Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich auch nicht.« Schwerfällig ließ er sich ihr gegenüber nieder. Nirgends war ein Laut zu hören. »Hoffentlich müssen wir nicht erst ein Liedchen schmettern, damit wir unser Frühstück serviert bekommen.«
»Ich finde es hier irgendwie unheimlich.«
»Dann geht es Ihnen wie mir.«
»Das glaube ich kaum. Jedenfalls sind nachts bislang noch keine Geister zu mir ins Bett gekrochen. Trotzdem, die Bude hier ist mir irgendwie nicht ganz geheuer. Außerdem habe ich noch nie …« Sie zog die Nase kraus.
»Noch nie was?«
»Na ja, Sie wissen schon … noch nie allein geschlafen.«
»Dtui, ich habe das ungute Gefühl, dass Sie mir schon wieder einen Schwund aufbinden wollen.«
»Nein, im Ernst. Normalerweise schlafe ich entweder bei meiner Mutter – oder im Schwesternwohnheim. Allein fühle ich mich hier oben nicht besonders sicher.«
»Daran werden Sie sich wohl oder übel gewöhnen müssen. Mir graut bei dem Gedanken, dass Sie den Moskauern feierlich verkünden, nachts nicht gern allein zu sein, auch wenn das Ihrer Beliebtheit bei den jungen Herren der Schöpfung keinen Abbruch tun dürfte. Sie können schließlich weder Ihre Mutter noch die Schwestern mit in den Ostblock nehmen.«
»Falls ich jemals dorthin komme.«
»Da habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
Siri wandte den Kopf und sah sich nach der Bedienung um. Es war ihm ein bisschen peinlich, Dtui schon wieder Hoffnungen machen zu müssen. Natürlich gab es Zweifel. Vor Kurzem hatte sie die Aufnahmeprüfungen zu weiterführenden Schulen in den kommunistischen Ländern Europas absolviert. Sie bildete sich seit Jahren heimlich fort, da die Klinikverwaltung unter keinen Umständen erfahren durfte, dass sie intelligenter war, als ihre Vorgesetzten annahmen. In Zeiten wie diesen galt Eigeninitiative als verdächtig. Dtui hatte Politik, Medizin und Russisch belegt und damit gute Chancen, das Gros der Medizinstudenten auszustechen, die darunter litten, dass ihre Professoren über den Mekong geflohen waren. Siris einzige Befürchtung war, dass sie von Verwandten der treuen Parteikader von der Liste gedrängt werden könnte.
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