Lucy Eyelesbarrow war jedoch nicht nur eine hervorragende Wissenschaftlerin, sondern hatte auch eine anständige Portion gesunden Menschenverstand abbekommen. Es entging ihr keineswegs, dass ein hoher akademischer Rang nur kümmerlich vergütet wurde. Sie hatte nicht den geringsten Wunsch zu lehren, sondern genoss den Kontakt mit Geistern, die dem ihren nicht das Wasser reichen konnten. Kurz, sie hatte ein Faible für Menschen, für alle möglichen Menschen – und nicht immer die gleichen Menschen. Außerdem mochte sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Geld. Um zu Geld zu kommen, musste man Mängel ausnutzen.
Lucy Eyelesbarrow stieß sehr bald auf einen empfindlichen Mangel – den Mangel an ausgebildetem Hauspersonal. Zum Erstaunen ihrer Freunde und Forscherkollegen wurde Lucy Eyelesbarrow Hausangestellte.
Sie hatte sofort durchschlagenden Erfolg. Inzwischen, nach einer Zeitspanne von einigen Jahren, kannte man sie landauf, landab auf den Britischen Inseln. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass Frauen fröhlich zu ihren Gatten sagten: «Es hat geklappt. Ich kann mit dir in die Staaten fahren. Ich habe Lucy Eyelesbarrow bekommen!» Das Besondere an Lucy Eyelesbarrow war, dass sie bloß in einem Haus aufzutauchen brauchte, und schon lösten sich Sorgen, Nöte und harte Arbeit in Wohlgefallen auf. Lucy Eyelesbarrow kümmerte sich um alles, tat alles, richtete alles. Sie war die Tüchtigkeit in Person. Sie sorgte für hinfällige Eltern, hütete kleine Kinder, pflegte Kranke, war eine göttliche Köchin, kam mit verknöcherten alten Dienern zurecht, falls es welche gab (meist gab es keine), war taktvoll im Umgang mit unmöglichen Leuten, beruhigte Gewohnheitstrinker und konnte wunderbar mit Hunden umgehen. Das Allerbeste aber war, dass sie sich für keine Arbeit zu schade war. Sie scheuerte den Küchenboden, grub den Garten um, beseitigte Hundedreck und schleppte Kohlen.
Aus Prinzip ließ sie sich nie für längere Zeit anstellen. Vierzehn Tage waren die Regel – ein Monat das Höchstmaß. Die vierzehn Tage kosteten ein Vermögen! Aber während dieser vierzehn Tage lebte man wie im Paradies. Man konnte sich nach allen Regeln der Kunst entspannen, ins Ausland fahren, die Beine hochlegen, tun und lassen, was man wollte, stets konnte man beruhigt sein, weil an der Heimatfront in Lucy Eyelesbarrows fachkundigen Händen alles bestens aufgehoben war.
Ihre Dienste waren natürlich ungeheuer gefragt. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie die nächsten drei Jahre ausgebucht gewesen. Man hatte ihr Unsummen für Festanstellungen geboten. Aber Lucy hatte nicht die Absicht, sich in Festanstellung zu begeben, auch verpflichtete sie sich nie für mehr als sechs Monate im Voraus. Und ohne dass ihre lautstarken Bittsteller etwas davon erfuhren, plante sie in diesem Zeitraum freie Phasen für kurze kostspielige Urlaube ein (Ausgaben für Kost und Logis fielen ja nicht an, überdies wurde sie fürstlich entlohnt) oder für kurzfristige Stellenangebote, die sie entweder als solche ansprachen oder weil sie «die Leute mochte». Da sie sich bei dem Kundenkreis, der sich um ihre Dienste bewarb, die Rosinen aus dem Kuchen picken konnte, folgte sie großenteils ihren persönlichen Neigungen. Für Geld allein erwarb man sich nicht die Dienste einer Lucy Eyelesbarrow. Sie hatte die Wahl, und sie nutzte sie. Sie genoss diese Lebensweise sehr und sah darin einen nie versiegenden Quell der Unterhaltung.
Lucy Eyelesbarrow las Miss Marples Brief wiederholt durch. Die beiden hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt, als Lucy von dem Romancier Raymond West engagiert worden war, um seine alte Tante zu versorgen, die damals eine Lungenentzündung auskurierte. Lucy hatte das Angebot angenommen und war nach St. Mary Mead gekommen. Miss Marple hatte ihr sehr gefallen. Was Miss Marple anging, so brauchte sie nur einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster zu werfen; als sie sah, mit welcher Sorgfalt Lucy Eyelesbarrow Reihen für die Gartenwicken zog, hatte sie sich erleichtert in die Kissen zurückfallen lassen, die von Lucy aufgetischten verführerischen Speisen gegessen und angenehm überrascht gelauscht, wie ihr altes, knurriges Hausmädchen erzählte. «Ich habe dieser Miss Eyelesbarrow ein Häkelmuster gezeigt, von dem sie noch nie gehört hatte! Die war vielleicht dankbar.» Und ihren Arzt hatte sie mit ihrer schnellen Genesung überrascht.
Miss Marple fragte in dem Brief, ob Miss Eyelesbarrow eine bestimmte Aufgabe für sie übernehmen könne – eine ziemlich ungewöhnliche. Vielleicht könne Miss Eyelesbarrow den Termin eines Treffens vorschlagen, bei dem sie die Angelegenheit näher besprechen könnten.
Lucy Eyelesbarrow runzelte die Stirn und überlegte. Eigentlich war sie bis auf weiteres ausgebucht. Aber das Wort ungewöhnlich und ihre Erinnerung an Miss Marples Persönlichkeit gewannen die Oberhand, sie rief sofort an und erklärte, sie könne zwar nicht nach St. Mary Mead kommen, da sie zur Zeit arbeite, sei jedoch am kommenden Nachmittag von zwei bis vier Uhr frei und könne Miss Marple irgendwo in London treffen. Sie schlug ihren Club vor, eine ziemlich unscheinbare Einrichtung, die aber den Vorteil mehrerer kleiner dunkler Schreibzimmer habe, die selten benutzt würden.
Miss Marple war mit dem Vorschlag einverstanden, und sie trafen sich am Tag darauf.
Sie gaben sich die Hand, Lucy Eyelesbarrow führte ihren Gast in das dunkelste Schreibzimmer und sagte: «Es tut mir Leid, dass ich gegenwärtig ausgebucht bin, aber erzählen Sie doch bitte, was ich für Sie tun soll.»
«Das ist eigentlich ganz einfach», sagte Miss Marple. «Ungewöhnlich, aber einfach. Ich möchte, dass Sie eine Leiche finden.»
Lucy hatte kurz den Verdacht, Miss Marple habe den Verstand verloren, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Miss Marple war absolut zurechnungsfähig. Sie meinte wortwörtlich, was sie gesagt hatte.
Lucy Eyelesbarrow blieb die Ruhe selbst und fragte: «Was für eine Leiche?»
«Eine Frauenleiche», sagte Miss Marple. «Die Leiche einer Frau, die in einem Zug ermordet wurde – erdrosselt, um genau zu sein.»
Lucy zog die Augenbrauen hoch.
«Das ist allerdings ungewöhnlich. Erzählen Sie mehr davon.»
Das tat Miss Marple. Lucy Eyelesbarrow hörte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Schließlich sagte sie:
«Alles hängt davon ab, was Ihre Freundin gesehen hat – oder glaubt…»
Sie beendete den Satz nicht, sondern ließ ihn fragend in der Schwebe.
«Elspeth McGillicuddy phantasiert nicht», sagte Miss Marple. «Deswegen verlasse ich mich auf ihre Worte. Bei Dorothy Cartwright – also, bei der wäre das etwas ganz anderes. Dorothy weiß immer eine gute Geschichte zu erzählen, oft glaubt sie sie auch, und gelegentlich hat sie sogar einen wahren Kern, aber das ist auch alles. Elspeth gehört hingegen zu den Frauen, denen es schwer fällt zu glauben, dass etwas Außergewöhnliches oder Seltsames überhaupt geschehen kann. Sie ist kaum zu beeinflussen, wie Granit.»
«Ich verstehe», sagte Lucy nachdenklich. «Gut, gehen wir einmal davon aus. Und wo komme ich ins Spiel?»
«Ich war sehr beeindruckt von Ihnen», sagte Miss Marple, «und ich selbst bin ja nicht mehr robust genug, um loszuziehen und alles selbst zu erledigen.»
«Ich soll Nachforschungen für Sie anstellen? Etwas in der Richtung? Aber hat die Polizei das nicht längst getan? Oder glauben Sie, man wäre dort nachlässig gewesen?»
«O nein», sagte Miss Marple. «Man war keineswegs nachlässig. Nur habe ich meine eigenen Ansichten, was diese Frauenleiche angeht. Irgendwo muss sie schließlich abgeblieben sein. Im Zug ist sie nicht gefunden worden, also muss sie aus dem Zug gestoßen oder geworfen worden sein – an den Gleisen ist sie aber auch nicht gefunden worden. Ich habe daher denselben Zug genommen und nach Stellen gesucht, wo die Leiche aus dem Zug geworfen worden sein könnte, aber trotzdem nicht an den Gleisen gefunden werden musste, und es gibt eine solche Stelle. Kurz vor Brackhampton macht die Strecke auf einem hohen Bahndamm eine weite Kurve. Würde eine Leiche dort hinausgeworfen, wo sich der Zug in die Kurve legt, dann würde sie, glaube ich, direkt den Bahndamm hinabstürzen.»
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