Mrs. McGillicuddy überhörte die finanzielle Seite.
«Um Himmels willen, was erwartest du denn, Jane?», fragte sie. «Doch nicht etwa noch einen Mord?»
«Natürlich nicht», sagte Miss Marple schockiert. «Aber ich muss gestehen, ich würde mir unter deiner Führung gern den – das – das richtige Wort ist in diesem Fall gar nicht so einfach – das Terrain des Verbrechens ansehen.»
Und so kam es, dass der 16.50 aus Paddington am Tag darauf mit Miss Marple und Mrs. McGillicuddy abfuhr, die sich auf zwei Eckplätzen erster Klasse gegenübersaßen. Paddington war noch voller gewesen als am vergangenen Freitag – bis Weihnachten waren es ja jetzt auch nur noch zwei Tage –, aber im Zug war es vergleichsweise friedlich, zumindest in den hinteren Wagen.
Diesmal holten sie keinen anderen Zug ein und wurden auch ihrerseits nicht eingeholt. Ab und zu sauste ein Zug Richtung London an ihnen vorbei. Zweimal sausten Züge mit hoher Geschwindigkeit in die andere Richtung an ihnen vorbei. Ab und zu sah Mrs. McGillicuddy unsicher auf die Uhr.
«Schwer zu sagen, wann – wir waren gerade durch einen Bahnhof gekommen, das weiß ich noch…» Aber sie durchquerten immerzu Bahnhöfe.
«In fünf Minuten müssten wir in Brackhampton ankommen», sagte Miss Marple.
In der Tür erschien ein Schaffner. Miss Marple sah ihre Freundin fragend an. Mrs. McGillicuddy schüttelte den Kopf. Es war ein anderer Schaffner. Er knipste ihre Fahrkarten, ging weiter und schwankte etwas, als sich der Zug in eine lang gezogene Kurve legte, wobei er an Geschwindigkeit verlor.
«Wir erreichen anscheinend Brackhampton», sagte Mrs. McGillicuddy.
«Ja, das ist wohl der Stadtrand», sagte Miss Marple.
Draußen glitten Lichter vorbei, Gebäude, und hin und wieder konnte man einen Blick auf Straßen und Straßenbahnen erhaschen. Sie wurden noch langsamer und fuhren über Weichen.
«Wir sind gleich da», sagte Mrs. McGillicuddy, «und ich finde nicht, dass diese Reise das Geringste genützt hat. Oder ist dir etwas aufgefallen, Jane?»
«Leider nicht», sagte Miss Marple mit unsicherer Stimme.
«Eine traurige Geldverschwendung», sagte Mrs. McGillicuddy, wenn auch weniger missbilligend, als wenn sie ihre Fahrkarte aus eigener Tasche hätte bezahlen müssen. In diesem Punkt war Miss Marple jedoch unnachgiebig geblieben.
«Nichtsdestoweniger sieht man doch gern mit eigenen Augen, wo etwas geschehen ist», sagte Miss Marple. «Dieser Zug hat ein paar Minuten Verspätung. War deiner am Freitag pünktlich?»
«Ich glaube ja. Ich habe nicht weiter darauf geachtet.»
Der Zug fuhr langsam in den belebten Bahnhof von Brackhampton ein. Der Lautsprecher erwachte heiser zum Leben, Türen gingen auf und zu, Menschen stiegen ein und aus und wuselten über den Bahnsteig. Es war ein einziges großes Gewimmel.
«Kein Problem für einen Mörder», dachte Miss Marple, «hier im Gedränge zu verschwinden, den Bahnhof mitten in diesem Menschenauflauf zu verlassen oder sich sogar ein anderes Abteil zu suchen und mit demselben Zug bis an sein eigentliches Ziel zu fahren. Einfach ein Reisender unter anderen. Aber eine Leiche kann sich nicht in Luft auflösen. Die Leiche muss irgendwo sein.»
Mrs. McGillicuddy war ausgestiegen und sprach jetzt vom Bahnsteig aus durchs offene Fenster.
«Pass auf dich auf, Jane», sagte sie. «Hol dir bloß keine Erkältung. Das Wetter ist in dieser Jahreszeit tückisch, und du bist nicht mehr die Jüngste.»
«Ich weiß», sagte Miss Marple.
«Wir sollten uns wegen der Geschichte keine grauen Haare wachsen lassen. Wir haben getan, was wir konnten.»
Miss Marple nickte und sagte:
«Bleib nicht in der Kälte stehen, Elspeth. Sonst holst du dir die Erkältung. Trink lieber im Bahnhofsrestaurant einen schönen heißen Tee. Du hast noch Zeit, dein Zug nach London zurück fährt erst in zwölf Minuten.»
«Das ist eine gute Idee. Auf Wiedersehen, Jane.»
«Auf Wiedersehen, Elspeth. Ich wünsche dir ein fröhliches Weihnachtsfest. Hoffentlich ist Margaret wohlauf. Viel Spaß auf Ceylon; grüß den lieben Roderick von mir – falls er sich überhaupt an mich erinnern kann, was ich bezweifeln möchte.»
«Natürlich erinnert er sich an dich – sehr gut sogar. Du musst ihm mal in der Schule geholfen haben – hatte das nicht irgendwie mit Geld zu tun, das aus einem Schließfach verschwunden war? Das hat er jedenfalls nicht vergessen.»
«Ach, das!», sagte Miss Marple.
Mrs. McGillicuddy wandte sich ab, ein Pfiff ertönte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Miss Marple sah zu, wie der stämmige, gedrungene Körper ihrer Freundin in der Ferne verschwand. Elspeth konnte guten Gewissens nach Ceylon reisen – sie hatte getan, was zu tun war, und war aller Verantwortung ledig.
Miss Marple lehnte sich nicht zurück, als der Zug Fahrt aufnahm. Sie blieb aufrecht sitzen und dachte angestrengt nach. Sie mochte beim Sprechen wirr und weitschweifig klingen, aber ihr Verstand arbeitete messerscharf. Sie musste ein Problem lösen, das Problem ihres weiteren Vorgehens; und komischerweise appellierte dieses Problem an ihr Pflichtgefühl wie zuvor an das von Mrs. McGillicuddy.
Mrs. McGillicuddy hatte gesagt, sie beide hätten getan, was sie konnten. Auf Mrs. McGillicuddy mochte das zutreffen, aber bei sich selbst war Miss Marple nicht so sicher.
Manchmal musste man seine besonderen Gaben zum Einsatz bringen… Aber das war vielleicht überheblich… Was konnte sie schließlich noch machen? Die Worte ihrer Freundin fielen ihr wieder ein: Du bist nicht mehr die Jüngste.
Sachlich wie ein General, der einen Feldzug plant, oder wie ein Wirtschaftsprüfer, der die Bücher einer Firma durchgeht, wog Miss Marple Für und Wider ihres weiteren Vorgehens ab. Auf der Habenseite fand sich schließlich folgendes:
1. Meine lange Lebenserfahrung und Menschenkenntnis.
2. Sir Henry Clithering und sein Patensohn (heute bei Scotland Yard, glaube ich), der bei dem Fall in Little Paddocks so entgegenkommend war.
3. David, der zweite Sohn meines Neffen Raymond, der meines Wissens für British Railways arbeitet.
4. Griseldas Sohn Leonard, der in Sachen Landkarten so bewandert ist.
Miss Marple prüfte diese Aktivposten und billigte sie. Sie alle waren nötig, um die Posten der Sollseite auszugleichen – vor allen Dingen ihre körperliche Hinfälligkeit.
«Es ist ja nicht so», dachte Miss Marple, «als könnte ich nach Lust und Laune umherstreifen, Erkundigungen einziehen und Dingen auf den Grund gehen.»
Ja, Alter und körperliche Schwäche waren ihre größten Hemmschuhe. Für ihr Alter mochte ihre Gesundheit zwar ausgezeichnet sein, trotzdem war sie alt. Und wenn Dr. Haydock ihr schon die Gartenarbeit strikt untersagt hatte, würde er es kaum gutheißen, wenn sie sich vornahm, einen Mörder aufzuspüren. Denn das hatte sie letztlich vor – und genau das war der wunde Punkt: Während ihr die Aufklärung von Mordfällen bisher gewissermaßen in den Schoß gefallen war, würde sie diesmal ganz bewusst die Initiative ergreifen. Und sie war nicht sicher, ob sie das wollte… Sie war alt – alt und müde. Im Moment, am Ende eines anstrengenden Tages war ihr der Gedanke zuwider, überhaupt ein Projekt in Angriff zu nehmen. Sie wollte bloß noch nach Hause fahren, sich mit einem leckeren Abendessen auf dem Tablett vor den Kamin setzen, ins Bett gehen, am Tag darauf im Garten werkeln und hier und da ein wenig herumschnippeln, einfach in aller Ruhe Ordnung schaffen, ohne sich zu bücken und ohne sich zu überanstrengen…
«Ich bin zu alt für solche Abenteuer», sagte sich Miss Marple, schaute gedankenverloren aus dem Fenster und betrachtete die geschwungene Linie eines Bahndamms…
Eine Kurve…
Eine schwache Erinnerung ging ihr durch den Kopf… kurz nachdem der Schaffner ihre Fahrkarten geknipst hatte…
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