Trotzdem ließ Fidelma den Mönch an jeder Grotte anhalten, und im Schein seiner Kerze lugte sie in jeden Winkel. Bei einer Ausbuchtung stutzte sie und griff nach einem Fetzen Stoff, der an einer vorstehenden Holzkante hängengeblieben war. Der Stoff war auffallend gefärbt und stammte gewiss nicht aus dem nüchternen braunen Habit der Klosterleute, schien eher ein Stück aus einem prächtig gewebten Umhang zu sein. Tuch dieser Art konnte nur jemand tragen, der reich und mächtig war.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Gang abgeschritten hatten und ein paar Stufen zu einer Wandverkleidung hochgestiegen waren, hinter der sich die Sakristei befand. Von dort lief Fidelma sofort durch die Kapelle zum Portal. Irgendetwas hatte ihr schon die ganze Zeit keine Ruhe gelassen. Nun, da sie wusste, es gibt einen unterirdischen Zugang zur Kapelle, ging ihr auf, was sie stutzig gemacht hatte.
»Die Kapellentür wird immer von innen verriegelt, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Rogallach.
»Wenn du also trotzdem in die Kapelle hineinwolltest, was würdest du da machen?«
Wieder lächelte Rogallach und gab einen unsichtbaren Schwaden Knoblauchgeruch von sich. »Na ganz einfach, ich würde den unterirdischen Gang benutzen.«
»Ja klar, wenn du wüsstest, dass es ihn gibt«, stimmte ihm Fidelma zu.
»Nur jemand, der fremd in Tara ist wie du, hätte davon keine Ahnung gehabt.«
»Wenn also jemand versucht, von außen in die Kapelle einzudringen, dann kann das nur jemand sein, der den verborgenen Zugang nicht kennt.«
Rogallach bestätigte das mit nachdrücklichem Kopfnicken.
Fidelma stand am Portal und betrachtete eingehend den Riegel und seine Befestigung am Türflügel. Ihr fiel auf, dass das Metallband verbogen und verbeult war. Dort war das Holz gesplittert, denn man hatte mit heftigen Schlägen die Haltebügel herausgetrieben. Ein zufriedenes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sich klarmachte, wie der Einbrecher vorgegangen war. Sie wandte sich zu Rogallach um. »Schick doch bitte den Wachmann Erc zu mir.«
Sechnussach, der Hochkönig, starrte Schwester Fidelma argwöhnisch an. »Ich erfahre soeben, du hättest angeordnet, dass Abt Colmán, Ailill Flann Esa, meine Schwester Ornait und Cernach Mac Diarmuid hier erscheinen sollen. Was berechtigt dich dazu?«
Mit sittsam gefalteten Händen stand Fidelma vor Sechnussach. »Dieses Recht steht mir als Anwältin am Hohen Gericht zu, außerdem nehme ich mir das Recht, weil ich nun darlegen kann, wie der Diebstahl deines Amtsschwerts bewerkstelligt wurde.«
Erregt beugte sich Sechnussach in seinem Sessel vor. »Du hast herausbekommen, wo Ailill es verborgen hat?«
»Ich war geradezu blind, denn ich hätte die Lösung des Rätsels längst finden können«, antwortete Fidelma.
»Wo also liegt das Schwert?«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Schwester Fidelma kühl. »Zunächst benötige ich noch eine Antwort von dir. Ich habe Cernach vorgeladen, den Sohn deines Oheims Diarmuid, der gemeinsam mit deinem Vater als Hochkönig regiert hat.«
»Was hat denn Cernach mit der ganzen Sache zu tun?«
»Es heißt, dass Cernach ein höchst energischer Verfechter der Reformen ist, wie sie die Kirche von Rom wünscht.«
Sechnussach runzelte verunsichert die Stirn. »Er hat mir oft Vorhaltungen gemacht, dass ich meine Ansichten ändern und diejenigen Äbte und Bischöfe in Irland unterstützen müsste, die sich für die von Rom ausgehende Kirchenzucht einsetzen. Aber richtig erwachsen ist er noch nicht. Erst in einem Monat wird er volljährig, und erst dann steht ihm ein Sitz in der Ratsversammlung zu. Seine Stimme hat noch kein Gewicht, wenngleich er bereits einen gewissen Einfluss auf die jungen Angehörigen unseres Hofes hat.«
Schwester Fidelma nickte. »Das stimmt mit dem überein, was ich bereits erfahren habe, doch ich benötigte deine Bestätigung. Die Wachtposten könnten jetzt Ailill hereinführen und die anderen Vorgeladenen. Dann werde ich darlegen, was ich herausgefunden habe.«
Schweigend stand sie vor dem Hochkönig, während Ailill Flann Esa unter strenger Bewachung hereingebracht wurde. Ihm folgte Abt Colmán. Die verängstigt wirkende Ornait kam herein und blickte mit erkennbarer Besorgnis auf ihren Liebhaber. Schließlich erschien ein dunkelhaariger junger Mann, allem Anschein nach Cernach Mac Diarmuid, der sich wunderte, was er hier sollte.
In einem Halbkreis standen sie vor dem in seinem Sessel thronenden Hochkönig. Sechnussach schaute Schwester Fidelma an und neigte den Kopf zum Zeichen, dass sie beginnen durfte.
»Ich will zusammenfassen, worin wir uns alle einig sind«, nahm sie das Wort. »Das heilige Schwert der Könige von Tara aus dem Stamm der Uí Néill wurde aus der Kapelle des heiligen Patrick gestohlen. Auch hinsichtlich des wahrscheinlichen Motivs herrscht Einigkeit. Es wurde gestohlen, um zu verhindern, dass Sechnussach morgen zum Hochkönig erhoben wird … oder um seinen Ruf in den Augen des Volkes zu schädigen, dann würden Unruhen zwischen den fünf Königreichen ausbrechen, die dazu führen könnten, dass Sechnussach gestürzt wird und ein anderer den Thron besteigt.«
Sie bedachte Sechnussach mit einem flüchtigen Lächeln. »Stimmen dem alle zu?«
»Das steht doch außer Frage«, rief Abt Colmán verärgert dazwischen. »In diesen finsteren Zeiten bedarf es nur eines so unheilvollen Omens wie des Verlusts des heiligen Schwerts, und schon herrschen Chaos und Gesetzlosigkeit in den fünf Königreichen Irlands. Das habe ich aber von Anfang an gesagt.«
»Und wer hätte den Nutzen von Chaos und Gesetzlosigkeit, wenn infolgedessen Sechnussach gestürzt würde?«, fragte Fidelma, fuhr aber fort, ehe noch jemand antworten konnte. »Das scheint offensichtlich. Sechnussach ist eingeschworen, die Traditionen unserer Königreiche und unserer Kirche hochzuhalten. Rom beansprucht die Oberhoheit über alle Landeskirchen, doch gegen diesen Anspruch verwahren sich sowohl die Kirchen Irlands, Britanniens und Armoricas als auch die Kirchen im Osten. Rom will unsere Liturgie umgestalten und die Berechnungen, nach denen wir das Cáisc-Fest begehen zur Erinnerung an den Tod unseres Herrn in Jerusalem. Unter uns gibt es etliche, selbst Äbte und Bischöfe, die die Bestrebungen Roms befürworten, die unsere Riten und Bräuche aufgeben wollen zugunsten einer Vereinigung mit der römischen Kirche. Auch die wir hier versammelt sind sprechen wir nicht alle mit einer Stimme. Nicht wahr, Ailill Flann Esa?«
Ailills Miene verfinsterte sich, und er brummte: »Ich habe dir doch erklärt, dass ich aus meinen Ansichten keinen Hehl mache.«
»Somit stimmen wir alle darin überein, dass es ein inneres Motiv für den Diebstahl des Schwerts gibt. Nämlich Untergraben des Ansehens des Hochkönigs und Ersetzung desselben durch jemand, der die bislang üblichen Bräuche ablehnt und sich voll und ganz hinter die Reformen Roms stellt.«
Alle schwiegen und lauschten gespannt.
»So viel zu dem offensichtlichen Motiv«, fuhr Schwester Fidelma fort. »Doch wenden wir uns den Tatumständen des Diebstahls zu. Kurz nach Mitternacht gehen zwei Wachleute an der Tür der Kapelle vorbei und sehen, dass die Tür geschlossen ist. Als sie zwanzig Minuten später wieder an der Tür vorbeikommen, bemerken sie, die Tür steht offen, der Riegel wurde gewaltsam aufgebrochen. Sie gehen in die Kapelle hinein und erblicken Ailill, der in die leere Truhe starrt, in der das Schwert verwahrt wird. Zu ihnen gesellt sich der Abt. Er ist aus der Sakristei gekommen, in die er durch den unterirdischen Gang gelangt war, der zwischen Abtei und Kapelle besteht. Er beschuldigt Ailill, das Schwert gestohlen und versteckt zu haben. In der Kapelle wird das Schwert nicht gefunden. Wenn Ailill es gestohlen hatte, wie hat er es derart schnell und geschickt verbergen können? Selbst die zehn Minuten, die ihm die Wächter zubilligen, hätten dazu nicht ausgereicht. Das ist die Frage, die sich mir bald stellte.«
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