Elizabeth schob die Belange des Tages beiseite und ließ den Blick auf der vertrauten, beruhigenden, wenngleich sich ständig verändernden Schönheit ruhen. Die Sonne schien vom tiefblauen Himmel, an dem nur wenige zarte Wölkchen wie Rauchfahnen dahinschwanden. Während des kurzen Spaziergangs, den sie mit ihrem Mann bei Tagesbeginn zu machen pflegte, hatte sie gespürt, wie trügerisch die Herbstsonne sein konnte. Der kühle Wind, auf den sie nicht eingerichtet gewesen war, hatte sie bald wieder ins Haus getrieben. Jetzt sah sie, dass er sogar noch auffrischte. Auf dem Fluss tanzten kleine Wellen und verloren sich zwischen den Gräsern und Büschen am Ufer, deren durchbrochene Schatten über das aufgewühlte Wasser zuckten.
Zwei Gestalten trotzten der Morgenkälte. Georgiana und Colonel Fitzwilliam waren am Fluss entlangspaziert und lenkten ihre Schritte jetzt hin zu dem Rasen und der Steintreppe vor dem Haus. Colonel Fitzwilliams rote Uniformjacke wirkte wie ein greller Farbfleck vor Georgianas zartblauem pelzgefüttertem Mantel. Sie hielten ein bisschen Abstand, wirkten aber, wie Elizabeth fand, sehr freundschaftlich miteinander. Hin und wieder hielten sie inne, und Georgiana griff nach ihrem Hut, der davonzuwehen drohte. Als sie näher kamen, trat Elizabeth vom Fenster weg, damit sie sich nicht beobachtet fühlten, und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Briefe waren zu schreiben, Einladungen zu beantworten, und sie musste entscheiden, welche Dorfbewohner so arm oder von Sorgen bedrängt waren, dass sie ihren Besuch, ihr Mitgefühl oder ihre tatkräftige Hilfe begrüßen würden.
Kaum hatte sie die Feder ergriffen, klopfte es leise an der Tür, und Mrs. Reynolds trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung, Madam, aber Colonel Fitzwilliam ist gerade von einem Spaziergang zurückgekehrt und lässt fragen, ob Sie ein paar Minuten für ihn hätten, falls es nicht ungelegen ist.«
»Ich habe Zeit, er soll ruhig heraufkommen«, erwiderte Elizabeth.
Sie glaubte zu wissen, was er ihr mitteilen wollte – ein Ansinnen, von dem sie gern verschont geblieben wäre. Darcy hatte nur wenige enge Freunde, und sein Cousin Colonel Fitzwilliam war häufig zu Gast in Pemberley. Zu Beginn seiner Militärlaufbahn war er nicht sooft erschienen, doch in den letzten achtzehn Monaten hatten seine Besuche zwar an Dauer abgenommen, an Häufigkeit jedoch gewonnen, und Elizabeth war ein feiner, aber nicht zu verkennender Unterschied an seinem Verhalten gegenüber Georgiana aufgefallen. In ihrer Anwesenheit lächelte er jetzt mehr, er setzte sich öfter zu ihr und verwickelte sie, wenn es die Situation zuließ, in ein Gespräch. Seit seinem Aufenthalt anlässlich des Balls im Jahr zuvor war eine materielle Veränderung in seinem Leben erfolgt. Sein älterer Bruder, der Erbe des Grafentitels, war im Ausland gestorben, so dass der Titel Viscount Hartlep auf ihn übergegangen und er der rechtmäßige Erbe war. Seinen neuen Titel verwendete er jedoch kaum, vor allem nicht unter Freunden, denn er hatte beschlossen, ihn erst anzunehmen, wenn er die Nachfolge antrat und die vielen damit verbundenen Pflichten übernahm. Deshalb wurde er nach wie vor Colonel Fitzwilliam genannt.
Er wollte sich natürlich verheiraten, besonders jetzt, da sich England im Krieg mit Frankreich befand und er fallen konnte, ohne einen Erben zu hinterlassen. Elizabeth hatte sich nie mit dem Familienstammbaum befasst, wusste jedoch, dass der Colonel keine engen männlichen Verwandten hatte und der Grafentitel erlöschen würde, sollte Fitzwilliam ohne einen Sohn sterben. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob er in Pemberley eine Ehefrau suchte und wie Darcy darauf reagieren würde. Bestimmt wäre es ihm angenehm zu wissen, dass seine Schwester eines Tages Countess sein und ihr Mann Mitglied des House of Lords werden und zu den Gesetzgebern des Landes zählen würde. Das alles war Grund genug, um stolz auf die Familie zu sein, doch würde Georgiana diesen Stolz teilen? Sie war jetzt eine erwachsene Frau und kein Mündel mehr, aber eine Heirat mit einem Mann in Betracht zu ziehen, den ihr Bruder nicht gutheißen konnte, würde Georgiana schmerzen, das war Elizabeth klar.
Und Henry Alveston machte die Sache noch komplizierter. Elizabeth hatte genug gesehen, um von seiner Verliebtheit überzeugt zu sein – zumindest stand er kurz davor, sich zu verlieben –, aber was war mit Georgiana? Eines wusste Elizabeth genau: Georgiana Darcy würde niemals einen Mann heiraten, den sie nicht liebte. Er musste wenigstens über die Anziehungskraft, die Zuneigung und den Respekt ihr gegenüber verfügen, die sich der Überzeugung einer Frau nach zu Liebe vertiefen konnten. So wie Elizabeth selbst dies als ausreichend empfunden hätte, wenn Colonel Fitzwilliam während seines Besuchs auf Rosings mit einem Antrag zu ihr gekommen wäre. Die Vorstellung jedoch, Darcy und ihr gegenwärtiges Glück unwissentlich an das Angebot seines Cousins verloren zu haben, war noch beschämender als die Erinnerung an ihr Faible für den niederträchtigen George Wickham, und sie schob sie energisch beiseite.
Der Colonel war am Abend zuvor rechtzeitig zum Dinner in Pemberley eingetroffen, doch nach der Begrüßung hatten Elizabeth und er nur wenig Zeit miteinander verbracht. Als er nun leise anklopfte, eintrat und ihr gegenüber auf dem angebotenen Stuhl am Kamin Platz nahm, kam es ihr vor, als sähe sie ihn zum ersten Mal deutlich. Er war fünf Jahre älter als Darcy, aber bei ihrer ersten Begegnung im Wohnzimmer von Rosings hatten sein fröhlicher Humor und seine ansprechende Lebhaftigkeit die stille Art seines Cousins noch stärker zur Geltung gebracht und ihn jünger wirken lassen. Doch damit war es vorbei. Jetzt strahlte er eine Reife und Ernsthaftigkeit aus, die ihn älter machten, als er war. Vielleicht, dachte sie, hing es mit seinem Militärdienst und der großen Verantwortung zusammen, die er als Befehlshaber trug; der Statuswechsel hingegen hatte ihm nicht nur eine gewisse Gesetztheit verliehen, sondern auch einen deutlicher spürbaren Stolz auf seine Familie und sogar einen nicht sonderlich anziehenden Hauch von Dünkelhaftigkeit mit sich gebracht.
Er ergriff nicht gleich das Wort. In der entstandenen Stille kam sie zu dem Entschluss, ihn als Ersten reden zu lassen, da er nun einmal um das Gespräch gebeten hatte. Er schien darüber nachzudenken, wie er am besten vorgehen sollte, wirkte aber weder verlegen noch aufgeregt. Nach einer Weile beugte er sich zu ihr vor und sagte: »Liebe Cousine, da Sie ein scharfes Auge besitzen und sich für die Angelegenheiten anderer Menschen interessieren, wird Ihnen nicht gänzlich unbekannt sein, was ich sagen will. Wie Sie wissen, habe ich seit dem Tod meiner Tante Lady Anne Darcy das Privileg, gemeinsam mit Darcy die Vormundschaft über seine Schwester auszuüben, und ich glaube sagen zu dürfen, dass ich meinen Pflichten mit großem Verantwortungsgefühl und unbeirrbarer brüderlicher Zuneigung zu meinem Mündel nachgekommen bin. Aus dieser Zuneigung ist nun die tiefe Liebe geworden, die ein Mann für die Frau, die er zu heiraten hofft, empfinden sollte, und es ist mein größter Wunsch, dass Georgiana meine Frau werden möge. Ich habe Darcy noch nicht offiziell gefragt, doch er hegt eine gewisse Vermutung – so, wie ich die Hoffnung hege, dass mein Antrag auf seine Billigung und Zustimmung trifft.«
Elizabeth hielt es für klüger, nicht darauf hinzuweisen, dass Georgiana ihre Volljährigkeit erreicht hatte und eine Zustimmung daher nicht notwendig war. »Und Georgiana?«
»Ohne Darcys Einwilligung fühle ich mich nicht berechtigt, mit ihr zu sprechen. Ich muss zugeben, dass Georgiana mir bisher mit keiner Äußerung Anlass zu großer Hoffnung gegeben hat. Ihre Haltung mir gegenüber ist stets von Freundschaftlichkeit, Vertrauen und, wie ich glaube, Zuneigung geprägt. Und ich hoffe, dass aus Vertrauen und Zuneigung Liebe wird, wenn ich Geduld beweise. Meiner Überzeugung nach kommt die Liebe bei einer Frau eher nach der Hochzeit als davor, was mir nur natürlich und richtig erscheint. Ich kenne sie schließlich schon seit ihrer Geburt. Der Altersunterschied könnte zugegebenermaßen ein Problem darstellen, aber ich bin nur fünf Jahre älter als Darcy und kann darin keinen Hinderungsgrund erkennen.«
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