»Da kommen sie wieder«, murmelte ein Mann neben Hawkwood. »Hurensöhne!«
»Was passiert jetzt?«, fragte Hawkwood.
Der Gefangene drehte sich um. Die Uniform schlotterte um seinen abgemagerten Körper. Sein Haar sah aus wie grau gepudert. Sein Kinn war unter einem säuberlichen Bart verborgen. Der Zustand seiner Kleider und die Farbe seines Haars ließ darauf schließen, dass er nicht mehr ganz jung war, doch in seinen Augen war ein Leuchten, das ganz und gar nicht zu der ansonsten ziemlich traurigen Erscheinung dieses Mannes passte. Sein Alter hätte überall zwischen vierzig und siebzig liegen können. Er war mit mehreren Büchern und Papieren beladen.
»Kontrolle.« Der Gefangene sah Hawkwood von oben bis unten an. »Gerade angekommen?«
Hawkwood nickte.
»Dachte ich mir. Man sieht es an Ihren Kleidern. Mein Name ist Fouchet.« Der Mann jonglierte mit den Büchern und streckte die Hand aus. »Sébastien Fouchet.«
»Hooper«, sagte Hawkwood. Er überlegte kurz, wie stark sein Händedruck ausfallen dürfe, da überraschte ihn aber schon die Kraft im Griff des anderen.
Fouchet nickte wissend. »Ah, ja, der Amerikaner. Ich hatte gehört, dass wir einen an Bord haben. Sie sprechen gut Französisch, Captain.«
Mein Gott , dachte Hawkwood. Er konnte sich nicht erinnern, Fouchet bei der Registrierung auf dem Oberdeck gesehen zu haben. Es hatte sich schnell herumgesprochen.
»Wie oft passiert das?«, fragte Hawkwood.
»Jeden Tag. Im Sommer um sechs, im Winter um drei Uhr.«
Die Wachen verteilten sich auf dem Deck. Es wurde keine Rücksicht auf die genommen, die auf dem Boden saßen, noch auf sonstige Gegenstände, mit denen die Männer sich beschäftigt hatten. Hawkwood sah, wie liegengebliebene Schachfiguren, Spielzeug und halbfertige Schiffsmodelle von Stiefelabsätzen zertreten wurden. Die Wachen ignorierten die Bitten der Männer, die noch versuchten, ihre Habseligkeiten zu retten, und fuhren fort, Wände und Fußböden mit den Eisenstangen abzuklopfen. Besonders den Metallgittern an den Geschützöffnungen widmeten sie größte Aufmerksamkeit. Der Klang von Metall auf Metall hallte über das Deck. Hawkwood überlegte, dass wahrscheinlich viel von diesem rüpelhaften Benehmen nichts weiter als Imponiergehabe war statt gründlicher Suche nach Beweisen für geplante Ausbruchsversuche. Die Methode war auch weiter nichts Neues. Es war eine alte, oft erprobte Art, Befehlsgewalt zu demonstrieren, den Gegner einzuschüchtern und ihn zu unterwerfen.
Zufrieden damit, dass keine erkennbaren Veränderungen am Schiffsrumpf zu entdecken waren, zogen die Wachen wieder ab. Auf dem Geschützdeck kehrte wieder Ruhe ein und die Unterhaltungen wurden fortgesetzt.
»Mistkerle«, fluchte Fouchet leise. Er nickte Lasseur zu, dann blinzelte er den Jungen an. »Und wen haben wir hier?«
Hawkwood machte sie miteinander bekannt.
»Hier gibt’s noch mehr Jungen an Bord«, sagte Fouchet. »Du solltest sie kennenlernen. Wir haben unter Deck eine ganz schöne Schule zuwege gebracht, mit Unterricht in vielen Fächern. Ich gebe Geografie und Geometrie.« Fouchet zeigte auf die Bücher, die er unterm Arm hatte. »Wenn du zu meinem Unterricht kommen möchtest, wirst du dich schnell mit den anderen anfreunden. Es ist nicht gut, wenn Kinder ihre Zeit unnütz vergeuden. Junge Köpfe sollten jede Gelegenheit zum Lernen nutzen. Was meinst du dazu?« Fouchet gab dem Jungen keine Zeit zur Antwort, sondern fuhr fort: »Ausgezeichnet, also abgemacht. Der Unterricht fängt morgen früh an, pünktlich um neun Uhr, die dritte Geschützöffnung auf Steuerbord. Erwachsene sind übrigens auch eingeladen. Für sie beträgt das Schulgeld pro Stunde einen Sou.« Er deutete in die bezeichnete Richtung und wandte sich zum Gehen.
Lasseur hielt ihn zurück, indem er ihm die Hand auf den Arm legte. »Haben Sie zufällig gesehen, was mit den Männern im Großboot geschehen ist?«
Der Lehrer runzelte die Stirn. »Welches Boot?«
»Das Boot vor uns, das man abtreiben ließ. Die Männer waren zu schwach, um auszusteigen.«
»Ah, ja.« Das Gesicht des Lehrers wurde freundlicher. »Ich habe gehört, sie wurden von der Sussex an Bord genommen.«
»Die Sussex?«
»Das Krankenschiff. Sie ist das erste Schiff in dieser Reihe.« Fouchet zeigte mit dem Finger in Richtung Bug.
Lasseur ließ den Arm des Lehrers los. »Vielen Dank, mein Freund.«
»War mir ein Vergnügen. Übrigens gibt es in einer Stunde noch mal einen Appell, bei dem wir gezählt werden, also würde ich mir’s gar nicht erst zu bequem machen. Ich werde beim Abendessen nach Ihnen Ausschau halten. Ich kann Ihnen ein bisschen helfen. Im Gegenzug können Sie mir von draußen erzählen. Es wird helfen, uns vom Essen abzulenken. Was ist heute, Freitag? Das heißt es gibt Dorsch. Ich warne Sie schon jetzt, er wird nicht genießbar sein. Aber eigentlich ist es egal, welcher Tag es ist, das Essen ist immer ungenießbar.« Der Lehrer lächelte und deutete eine kurze, förmliche Verbeugung an. »Mein Herren!«
Hawkwood und Lasseur sahen ihm nach. Sein rechtes Bein schien steif zu sein, und sein Gang war langsam und schwerfällig.
»Dorsch«, wiederholte Lasseur verzweifelt und schloss die Augen. »Heilige Muttergottes!«
Der nächste Trupp Wachen hatte keine Eisenstangen. Stattdessen benutzten sie Musketen mit aufgepflanzten Bajonetten, um die Gefangenen aufs Oberdeck zu treiben. Von dort mussten sie einzeln wieder hinabsteigen, wobei sie gezählt wurden. Der Leutnant, der bei der Aufnahme dabei gewesen war, führte hierbei die Aufsicht. Hawkwood erfuhr, dass er Thynne hieß.
Das Zählen war eine langwierige Sache. Bis es zur Zufriedenheit des Leutnants beendet war, waren die Schatten lang geworden. Im Dämmerlicht machten sich die Gefangenen auf zur Back, um sich in die Schlange fürs Abendessen einzureihen.
Das Essen war so unappetitlich, wie Fouchet es vorhergesagt hatte. Die Gefangenen wurden in Gruppen zu jeweils sechs Mann eingeteilt. Das Essen wurde in der hölzernen, rauchgeschwärzten Hütte auf der Back ausgegeben. Wachen passten auf, wie ein Abgesandter jeder Gruppe Brot, rohe Kartoffeln und Fisch von einem Helfer in Empfang nahm. Anschließend wurde das Essen zu großen Kesseln gebracht, wo es von dem Gruppenmitglied, das Küchendienst hatte, gekocht wurde. Dann bekam jede Gruppe ihre Zuteilung. Fouchet war zuständig für Hawkwoods Gruppe.
Lasseur starrte auf den Inhalt seines Blechnapfes. »Mit diesem Fraß können selbst Franzosen nichts anfangen.« Mit dem Holzlöffel schob er eine Kartoffel herum. »Hier werde ich verhungern.«
»Und ich glaube, Sie werden nicht allein sterben«, sagte Hawkwood.
»Es könnte schlimmer sein«, meinte Fouchet missmutig. »Zum Beispiel, wenn heute Mittwoch wäre.«
»Was passiert mittwochs?«, fragte Lasseur zögernd und sofort misstrauisch geworden.
»Sagen Sie’s ihm, Millet.« Fouchet gab dem Mann neben sich einen Schubs, einem Seemann mit traurigen Augen und eingefallener Brust, dessen sommersprossige Unterarme mit tätowierten Seeschlangen bedeckt waren.
Der Seemann nahm einen Löffel voll Fisch und betrachtete ihn misstrauisch. »Dann gibt’s Salzhering.« Millet schaufelte das Stück Fisch in den Mund und kaute geräuschvoll. Er hatte nicht mehr viele Zähne, wie Hawkwood bemerkte. Die wenigen, die er noch hatte, waren nur noch graue Stummel. Hawkwood vermutete, dass es sich hier um einen Mann mit fortgeschrittenem Skorbut handelte. Kein Wunder bei der Verpflegung, wie die Männer sie beschrieben.
Entsetzt sah Lasseur den Mann an.
»Normalerweise verkaufen wir ihn an den Händler zurück.« Der Sprecher saß neben Millet am Ende des Tisches. Er war ein mageres Geschöpf mit tiefliegenden braunen Augen, einer Hakennase und sehr blasser Haut, wie man durch die Löcher in seiner Gefangenenkluft sehen konnte. »Der gibt uns zwei Sous dafür. In der nächsten Woche bringt er uns die Heringe wieder, so dass wir sie erneut an ihn verkaufen können. Die meisten von uns kaufen sich dann mit dem Geld Extrarationen Käse oder Butter. Das hilft, den Geschmack vom Brot etwas zu maskieren.«
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