Der Propeller dreht sich. Das Flugzeug fängt an auf dem Wasser zu gleiten, dann beginnt es zu kreiseln, und Kalle beißt sich vor Aufregung auf die Lippen. Jetzt wird es sich zeigen, ob seine Sabotage geglückt ist. Das Flugzeug zieht Kreise auf dem Wasser.
Immer nur Kreise. Aber es erhebt sich nicht. Schwer neigt es sich auf die linke Seite, neigt sich tiefer und tiefer und kippt um.
»Hurra!« schreit Kalle, alles andere vergessend. Aber dann denkt er an den Professor, der sich ja auch in dem Flugzeug befindet, und als er sieht, wie es sinkt, wird er unruhig. »Kommt!«
schreit er den anderen zu. Und sie stürzen aus dem Gebüsch, eine wilde kleine Heerschar, die lange im Hinterhalt gelegen hat.
Das Flugzeug ist draußen im Sund gesunken. Es ist nicht mehr zu sehen. Einige Menschen schwimmen im Wasser. Aufgeregt zählt Kalle. Ja, es sind drei.
Und ganz plötzlich sind die Motorboote da. Die Motorboote, die sie beinahe vergessen hatten. Und, guter Moses, wer ist es, der dort vorn im ersten steht?
»Onkel Björk! Onkel Björk! Onkel Björk!« Sie schreien, daß ihnen fast die Stimmbänder platzen.
»Oh, es ist Onkel Björk«, schluchzt Eva-Lotte, »oh, wie gut, daß er hier ist!«
»Und die vielen Polizisten, die er bei sich hat!« schreit Kalle begeistert und erleichtert zugleich.
Draußen im Sund herrscht ein einziges Durcheinander. Sie sehen nur ein Gewimmel von Uniformen und Rettungsringen, die ausgeworfen werden, und Menschen, die aus dem Wasser gezogen werden. Zumindest sehen sie zwei, die herausgefischt werden. Aber wo ist der dritte?
Der dritte schwimmt auf das Ufer zu. Es scheint, als habe er keine Hilfe nötig. Er will sich selbst retten. Ein Motorboot nimmt Kurs auf ihn. Aber der Mann hat schon einen zu großen Vorsprung. Er erreicht den Anlegesteg. Klettert daran hoch und kommt mit langen, weiten Sätzen genau auf die Stelle zu, wo Anders, Kalle und Eva-Lotte sind. Sie haben sich wieder hinter den Büschen versteckt, denn der Näherkommende sieht an-griffslustig aus, und sie haben Angst vor ihm.
Nun ist er schon dicht bei ihnen, und sie können seine Augen sehen, die voller Raserei, Angst und Haß sind. Aber er sieht nichts. Er sieht die kleine Heerschar hinter dem Busch nicht. Er weiß nicht, daß seine erbittertsten Feinde in allernächster Nähe sind. Und wie er an ihnen vorüberläuft, streckt sich ein Jungen-bein vor seine Füße. Mit einem Fluch fällt er kopfüber nach vorn.
Und dann sind sie über ihm, seine Feinde, alle drei zu gleicher Zeit. Sie werfen sich auf ihn, halten seine Arme und Beine fest, drücken seinen Kopf in den weichen Sand und brüllen:
»Onkel Björk, Onkel Björk, schnell, helfen Sie uns!«
Und Björk kommt. Natürlich kommt er. Er hat noch nie seine Freunde, die tapferen Ritter der Weißen Rose, im Stich gelassen.
Auf dem Moosboden im Wald liegt zusammengekrümmt ein Mann. Bei ihm sitzt ein kleiner Junge und weint.
»Nicke, du blutest ja«, sagt Rasmus. Ein roter Fleck, der immer größer wird, ist auf dem Hemd des Mannes zu sehen. Rasmus zeigt mit einem schmutzigen Finger darauf. »Pfui Blase, wie ist er blöde, dieser Peters! Hat er auf dich geschossen, Nicke?«
»Ja«, sagt Nicke, und seine Stimme ist so schwach und seltsam. »Ja, er hat auf mich geschossen … Aber deshalb mußt du nicht weinen, Häschen … Hauptsache, dir ist nichts passiert!«
Er ist ein armer, einfältiger Seemann und liegt nun hier und glaubt, daß er sterben muß. Aber er ist zufrieden. Er hat so viele dumme Sachen in seinem Leben gemacht und ist jetzt froh, daß das letzte, was er getan hat, gut war – und richtig. Er hat Rasmus gerettet. Er weiß es nicht genau, wie er so daliegt, aber er weiß, er hat es versucht. Er weiß, daß er gelaufen ist, bis sein Herz wie ein Blasebalg pumpte und er fühlte, daß er nicht mehr weiter konnte.
Er weiß, daß er Rasmus an sich gepreßt hielt, bis diese Kugel kam und er zu Boden fiel. Und er weiß, daß Rasmus wie ein aufgescheuchtes kleines, ängstliches Häschen zwischen die Bäume lief und sich versteckte. Nun aber ist das Häschen wieder bei ihm, und Peters ist verschwunden. Der hatte es plötzlich sehr eilig wegzukommen. Sicher getraute er sich nicht, länger zu bleiben und nach Rasmus zu suchen. Jetzt sind sie beide allein hier. Das kleine Kerlchen, das bei ihm sitzt und weint, ist das einzige Wesen, um das sich Nicke in seinem Leben gekümmert hat.
Wie es dazu gekommen ist, begreift er selber nicht. Er weiß nicht, wie es anfing – vielleicht damals am ersten Tag, als Rasmus den Flitzbogen bekam und dankbar seine Arme um Nickes Hals schlug und sagte: »Ich finde, du bist sehr, sehr nett, kleiner Nicke!«
Und jetzt hat Nicke große Sorgen. Wie soll er Rasmus von hier wegbekommen, zurück zu den anderen? Etwas muß dort unten an der Anlegestelle passiert sein. Das Flugzeug ist nicht abgeflogen, und das Motorboot hatte sicher auch etwas zu bedeuten. Irgendwie ist jetzt das Ende dieser elenden Geschichte nahe, und Peters ist erledigt – so erledigt wie er. Nicke ist zufrieden. Alles wäre jetzt gut, wenn nur Rasmus schnellstens zu seinem Vater zurückkäme. Ein kleiner Junge darf doch nicht im Wald sitzen und zusehen, wie ein Mensch stirbt. Das möchte Nicke seinem kleinen Freund ersparen, aber er weiß nicht, wie er es machen soll. Er kann ihm doch nicht einfach sagen: »Geh jetzt, der alte Nicke will sterben, und dabei will er allein sein, will hier allein liegenbleiben und froh darüber sein, daß du wieder ein freier, glücklicher Junge bist, der mit dem Flitzbogen und den Borkenbooten spielen kann, die Nicke für dich geschnitzt hat!« Nein, das kann man nicht sagen!
Und jetzt legt Rasmus den Arm um seinen Hals und sagt in zärtlichstem Tonfall: »Komm jetzt, kleiner Nicke, wir wollen gehen! Wir gehen zu meinem Vati!«
»Nein, Rasmus«, sagt Nicke schwer, »ich kann jetzt nicht gut gehen. Laß mich, bitte, hierbleiben. Aber du sollst gehen – ich will, daß du gehst!«
Rasmus schiebt die Unterlippe vor. »Stell dir vor, daß ich das nicht tun werde«, sagt er bestimmt. »Ich warte, bis du mit-kommst. Bitte sehr!«
Nicke antwortet nicht. Seine Kräfte verlassen ihn, und er weiß auch nicht, was er sagen soll. Und Rasmus bohrt seine Nase in Nickes Backe und flüstert: »Denn ich hab’ dich so lieb …«
Da weint Nicke. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint. Aber jetzt weint er. Weil er so müde ist und weil das er-stemal in seinem Leben ein Mensch so etwas zu ihm sagt.
»So, hast du das?« brummt er. »Denk mal an, daß du einen alten Kidnapper gern haben kannst, wie?«
»Ja, aber ich finde wirklich, daß Kidnapper nett sind«, versichert Rasmus.
Nicke nimmt all seine Kraft zusammen. »Rasmus, jetzt mußt du tun, was ich dir sage. Du mußt zu Kalle und Anders und Eva-Lotte gehen. Ich denke, du willst eine Weiße Rose werden! Das willst du doch?«
»Ja, natürlich … aber …«
»Na also! Dann mach schon! Ich glaube, die warten schon auf dich!«
»Und du, Nicke? Was …«
»Ach, Blödsinn! Ich liege hier so schön weich im Moos, mir fehlt nichts. Ich bleibe hier und ruhe mich aus und will mir anhören, wie die Vögel Musik machen.«
»Aber …« sagt Rasmus und spricht nicht weiter, denn er hört jemanden in der Ferne rufen. Jemand ruft seinen Namen. »Das ist ja Vati«, sagt er dann und lacht.
Da weint Nicke wieder, aber ganz leise, den Kopf in das Moos gedrückt. Ja, manchmal ist Gott einem armen Sünder gnädig – jetzt braucht er sich um Rasmus keine Sorgen mehr zu machen. Und er weint vor Dankbarkeit – und weil es so schwer ist, der kleinen Gestalt Adieu zu sagen, die da in dem schmutzigen Overall steht und nicht weiß, ob sie zu Vati gehen oder bei Nicke bleiben soll.
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