Aber Nicke bleibt nicht stehen. Er drückt Rasmus nur noch fester an sich und läuft auf den Wald zu.
Da fällt ein Schuß. Und noch einer. Aber Peters ist wohl zu aufgeregt, um richtig zielen zu können. Nicke läuft weiter und ist bald zwischen den Bäumen verschwunden. Der Wutschrei, den Peters ausstößt, ist kaum noch menschlich zu nennen. Er winkt Blom und Svanberg. Zusammen rennen sie dann dem Ge-flohenen nach.
Kalle, Anders und Eva-Lotte bleiben hinter dem Gebüsch liegen und starren entsetzt zum Wald. Was geschieht dort zwischen den Bäumen? Ein schreckliches Gefühl, nichts sehen zu können – nur Peters’ schauderhafte Stimme zu hören, die flucht und schreit und langsam immer tiefer im Walde verklingt.
Kalle sieht in die andere Richtung. Zum Flugzeug. Immer noch sitzt der Professor mit dem Piloten, der ihn bewacht, in der Maschine. Sonst ist niemand mehr da.
»Anders«, flüstert Kalle, »borg mir dein Messer.«
Anders zieht das Lappenmesser aus dem Gürtel.
»Was hast du vor?« flüstert er zurück.
Kalle betastet prüfend die Messerschneide.
»Sabotage!« sagt er. »Sabotage am Flugzeug. Habe ich mir gerade eben ausgedacht.«
»O ja, du, mit dem buckligen Schädel ist das tadellos ausgedacht«, flüstert Anders ermunternd.
Kalle hat die Kleider ausgezogen.
»In einer Minute oder so – einige kräftige Schreie«, sagt er zu den anderen, »damit der Pilot abgelenkt wird.«
Kalle macht sich auf den Weg. In weitem Bogen schleicht er zwischen den Bäumen zur Anlegestelle. Und als Eva-Lotte und Anders ihren Indianerschrei ausstoßen, springt er die freiliegen-den Meter bis zum Steg und schlüpft ins Wasser. Er hat richtig gerechnet, der Pilot blickt wachsam in die Richtung, aus der der Schrei kam, und sieht deshalb den schlanken Jungenkörper nicht, der wie ein Blitz vorbeischießt.
Kalle schwimmt unter der Brücke. Lautlos, wie es so oft im Krieg der Rosen geübt worden ist. Dann von der Brücke aus noch einige Schwimmstöße unter Wasser, und er hat das Flugzeug erreicht. Vorsichtig sieht er nach oben. Der Pilot ist durch die offene Kabinentür zu sehen. Er sieht auch den Professor, und, was mehr ist, der Professor sieht ihn. Noch immer starrt der Pilot zum Wald hin, ohne etwas zu entdecken. Kalle hebt das Messer und macht einige stechende Bewegungen in die Luft hinein, damit der Professor versteht, was er vorhat.
Der Professor versteht. Er begreift sofort, was er selbst zu tun hat. Wenn Kalle mit dem Messer am Flugzeug etwas vorhat, wird ohne Zweifel einiges Geräusch entstehen, das dem Piloten nicht entgehen kann, falls er nicht von einem noch stärkeren Geräusch abgelenkt wird. Der Professor übernimmt also die
»noch stärkeren Geräusche«, Er fängt an zu schreien und zu lärmen und stampft mit den Füßen auf dem Kabinenboden herum. Der Pilot mag gerne glauben, daß der Professor verrückt geworden ist – daß er es noch nicht ist, wundert ihn selbst.
Beim ersten lauten Schrei seines Gefangenen fährt der Pilot erschrocken hoch. Es erschreckt ihn, weil es so unerwartet kommt. Und weil er einen Schreck bekommen hat, wird er böse.
»Halt’s Maul!« sagt er in einem eigentümlich fremden Tonfall. Er kann nicht viel Schwedisch. Aber so viel kann er jedenfalls. »Halt’s Maul, du!« sagt er noch einmal, und der eigentümliche Tonfall macht, daß es eigentlich recht gemütlich wirkt.
Aber der Professor schreit und trampelt nur noch heftiger.
»Ich mache Lärm, so viel ich will!« schreit er, und er empfindet es jetzt als etwas sehr Schönes, zu trampeln und Krach zu machen. Es erleichtert die Anspannung seiner Nerven.
»Halt’s Maul, du«, sagt der Pilot, »oder ich schlage Nase ab von dir!«
Der Professor aber schreit, und unten im Wasser arbeitet Kalle, schnell und mit Methode. Genau vor sich hat er den linken Schwimmer, und er stößt das Messer wieder und wieder durch das leichte Metall, bohrt und stößt überall dort, wo er hinlangen kann. Und bald sickert das Wasser durch die vielen kleinen Löcher. Kalle ist mit seiner Arbeit zufrieden.
»Ja, ja, ihr hättet schon Nutzen von dem unzerstörbaren Leichtmetall«, denkt er. »Jedenfalls hier hättet ihr es gut gebrauchen können.« Dann schwimmt er wieder zurück.
»Halt’s Maul, du!« sagt der Pilot. Und diesmal gehorcht sein Gefangener.
Es ist sechs Uhr morgens, ein Dienstag und laut Kalender der erste August. Über Kalvö scheint die Sonne, das Wasser ist blau, das Heidekraut beginnt schon zu blühen, und das Gras ist feucht vom Tau. Da hören sie einen Schuß! Irgendwo im Wald hat jemand geschossen. Weit weg, sehr weit weg. Aber in der Stille des Morgens ertönten der Schuß und das Echo laut und unheilverkündend, und der Knall traf die Trommelfelle so schmerzhaft deutlich und scharf, daß einem davon himmelangst wurde.
Man wußte ja nicht, welches Ziel diese Kugel getroffen hatte.
Man wußte nur, daß Rasmus und Nicke sich dort mit einem furchtbaren Menschen, der bewaffnet war, aufhielten. Und man konnte nichts dagegen tun. Nur warten, wenn man auch nicht wußte, worauf. Warten, daß irgend etwas geschah, was diese entsetzliche Situation veränderte. Warten in alle Ewigkeit! Es war, als ginge eine Lebenszeit vorbei. Sollte es immer so bleiben: frühe Morgensonne über einer Anlegestelle, ein Wasserflugzeug, das auf den Wellen schaukelt, eine kleine Bachstelze, die zwischen dem Heidekraut einhertrippelt, Ameisen, die über einen Stein kriechen – und man liegt auf dem Bauch und wartet? Soll das wirklich bis in alle Ewigkeit so bleiben?
Anders hat gute Ohren, er hört es zuerst.
»Ich höre etwas«, sagt er. »Würde mich sehr wundern, wenn das kein Motorboot ist.«
Die anderen lauschen. Tatsächlich – ein ganz schwaches Geknatter ertönt irgendwo draußen auf dem Wasser. In diesen verlassenen Schären, die von Gott und den Menschen vergessen scheinen, ist das schwache Knattern der erste Laut, der von der Außenwelt zu ihnen dringt. In den fünf Tagen, die sie nun auf der Insel sind, haben sie keinen fremden Menschen, kein Motorboot, nicht einmal einen Kahn mit einem Fischer gesehen.
Jetzt ist dort irgendwo ein Motorboot, das fährt. Kommt es hierher? Wer weiß?
Hier sind so viele Buchten, es gibt tausend Möglichkeiten, daß das Boot woanders hin will. Aber wenn es kommt – kann man dann nicht auf den Steg laufen und mit aller Kraft seiner Lungen schreien: »Kommt her, kommt her, bevor es zu spät ist!« Wenn es aber nun eine kleine Urlaubsgesellschaft ist, die mit dem Boot vorbeifährt, die winkt und lacht und weiterfährt und gar nicht daran denkt, näher zu kommen und zu fragen, was los ist?
Die Ungewißheit und Spannung wird jeden Augenblick schwerer zu ertragen. Sie lauschen angestrengt auf das Geknatter drau-
ßen auf dem Wasser. Und es kommt näher. Bald können sie das Boot weit, weit draußen sehen. Das Boot? Es sind doch wohl zwei!
Aber aus dem Wald kommt auch etwas. Es ist Peters. Dicht hinter ihm Blom und Svanberg. Sie rennen zur Anlegestelle, als gälte es das Leben. Vielleicht haben sie auch die Motorboote gehört und haben jetzt Angst. Nicke und Rasmus sind nicht zu sehen. Bedeutet das – nein, sie wagen nicht, daran zu denken, was es bedeuten könnte! Ihre Augen verfolgen Peters. Er ist in das Ruderboot gesprungen und rudert auf das Flugzeug zu.
Dann klettert er in die Kabine hinauf und wendet sich zu Blom und Svanberg, die verlassen am Steg stehen – für sie ist in der kleinen Kabine wohl kein Platz mehr. »Versteckt euch im Wald! Ihr werdet abends abgeholt!«
Читать дальше