»Wann ziehen wir ab?«, fragte einer von ihnen.
»Beim ersten Tageslicht, gleich morgen früh«, antwortete ein anderer. Etwas an der Stimme kam Sherlock bekannt vor, aber er konnte sie einfach nicht einordnen.
»Wer hat den Einsatzplan?«, fragte eine dritte Stimme.
»Den hab ich im Kopf«, erwiderte der zweite Mann. »Du machst dich nach Ripon auf. Snagger geht nach Colchester. Jungspund Nichelson hier macht ’ne Spritztour nach Woolwich, und ich muss zurück nach Aldershot.«
»Kann ich nicht lieber nach Aldershot?«, fragte eine Stimme mit nördlichem Akzent – vermutlich besagter Jungspund Nichelson.
»Du gehst dahin, wohin man es dir sagt, Sonnenschein«, erwiderte der zweite Mann. Beim Sprechen kam er dicht an Sherlock vorbei. Sein Fuß stieß gegen Sherlocks Pflasterstein und beförderte diesen ein Stück die Straße hinunter.
Ohne es zu wollen, sah Sherlock auf … und blickte dem Mann genau in die Augen.
Es war Denny: der Mann, dem Sherlock zum Lagerhaus in Farnham gefolgt war, der Mann, der dabei gewesen war, als sein Freund Clem auf das Boot gesprungen war, um Sherlock und Matty anzugreifen. Der Mann, der für Baron Maupertuis arbeitete.
So viel zum Thema Unsichtbarkeit. Dennys Gesicht wurde augenblicklich rot vor Wut.
Hände griffen nach Sherlock. Er rollte sich rasch zur Seite, sprang auf die Beine und rannte auf dem Pflasterweg davon. Eigentlich hatte er auf die Taverne zulaufen wollen, in der sich Amyus Crowe befand, aber die Männer standen zwischen ihm und der Tavernentür. Stattdessen rannte er also immer weiter weg … fort von Crowe, fort von Matty und von allem, was er von der Gegend kannte.
Hinter ihm wirbelten dröhnende Schritte über das Pflaster. Gespenstisch hallte ihr Echo von den Häuserwänden wider, an denen er vorbeiflitzte. Ihm brannte der Atem in der Kehle, und sein Herz hämmerte wie ein lebendes Wesen, das man in seinem Brustkorb eingesperrt hatte und sich nun mit aller Macht befreien wollte. Zweimal spürte er, wie Finger seinen Nacken streiften und hastig nach seinem Kragen griffen, und zweimal musste er sich in einer verzweifelten Kraftanstrengung losreißen. Abgesehen von Sherlocks pochendem Herzen, den unterdrückten Flüchen, die seine Verfolger beim Laufen ausstießen, sowie dem Dröhnen ihrer Stiefel verlief die Hetzjagd in absoluter Stille.
Als er ein gutes Stück weiter gerannt war, erkannte er plötzlich, dass der Weg vor ihm abrupt in einer Ziegelsteinmauer endete. Entsetzt riss Sherlock die Augen auf.
Er saß in der Falle! Er drehte sich um und versuchte fieberhaft abzuschätzen, ob er noch genug Zeit haben würde, um zurückzurennen und einen anderen Weg zu finden. Aber die Männer kamen schnell näher. Insgesamt hatte er es mit fünf Kerlen zu tun, wie er in einer merkwürdigen Mischung aus Angst und Gelassenheit feststellte, die plötzlich Besitz von ihm ergriffen hatte. Und alle hielten entweder Messer oder schwere Stöcke in den Händen. Er würde niemals lebend hier rauskommen.
Plötzlich konnte er eine deutlich vernehmbare Stimme in seinem Kopf hören. Er hätte trotzdem nicht sagen können, ob sie seinem Bruder, Amyus Crowe oder ihm selbst gehörte, aber auf jeden Fall sagte sie: »Wege und Straßen führen von einem Ort zum anderen. Ein Weg, der einfach in einer Mauer endet, ist nicht logisch. Er erfüllt keinen Zweck und wäre somit auch gar nicht erst gebaut worden.«
Sherlock wirbelte herum und ließ den Blick über die Ziegelsteinmauer gleiten. Keine Türen, keine Fenster. Nichts außer einem großen Schattenfleck in der Ecke, dort, wohin das matte Sonnenlicht nicht vordringen konnte.
Wenn es einen Ausweg gab, dann müsste er dort sein.
Er rannte in den Schatten hinein. Hätte sich dort nichts befunden, wäre er geradewegs gegen die Ziegelsteine gedonnert und k.o. gegangen. Stattdessen aber stieß er auf einen schmalen Durchgang. Da war sie, seine Fluchtmöglichkeit!
Der enge finstere Gang führte zwischen zwei Gebäuden entlang. Er rannte weiter und hörte plötzlich frustrierte Rufe hinter sich, als seine Verfolger auf der Suche nach dem Durchgang kurzzeitig orientierungslos im Schatten umhertappten. Dann kamen sie einer nach dem anderen hinter ihm in den Gang gestolpert, und Sherlock hörte ihre ächzenden Atemzüge von den hohen Mauerwänden widerhallen.
Mal an die linke, dann wieder an die rechte Wand stoßend, stürmte Sherlock im Zickzack weiter durch den dunklen Gang voran, bis er schließlich auf eine breite Straße hinausstürzte, die auf beiden Seiten von Häusern gesäumt war. Die dröhnenden Stiefeltritte seiner Verfolger in den Ohren rannte er ein Stück geradeaus, bevor er plötzlich aus vollem Lauf schlitternd in einen kleinen Weg nach links einbog. Schon hatte er wieder ein paar Meter Vorsprung gewonnen.
Doch im nächsten Augenblick kam ein Hund aus einer Maueröffnung auf ihn zugeschossen. Allerdings war Sherlock schon vorbei, als die Zähne des Hundes hinter ihm laut in die leere Luft schnappten und das rasende Tier sich gleich darauf auf die Männer stürzte, die hinter ihm her waren. Sherlock hörte wütendes Gebell und heftiges Gefluche, als seine Verfolger dem Hund auszuweichen versuchten. Dann vernahm er, wie ein Stiefel mit dumpfem Ton auf etwas Weiches traf – ein Übelkeit erregendes Geräusch, bei dem Sherlock unwillkürlich zusammenzuckte. Der Hund jaulte laut auf und krabbelte winselnd davon.
Als Sherlock gleich darauf mit Höchstgeschwindigkeit wieder um eine Ecke flitzte, rannte er mit voller Wucht in einen Mann und eine Frau hinein, die anscheinend gerade am Ufer der Themse einen Spaziergang machten. Während Sherlock bloß etwas nach hinten taumelte, schlug der Mann der Länge nach hin.
»Du elender kleiner Dreckskerl«, schrie der Mann, als er sich wieder auf die Beine hievte. »Ich zieh dir die Hammelbeine lang!« Er schob sich die Ärmel seiner Jacke hoch und entblößte muskelbepackte Unterarme, die mit blauen Anker- und Meerjungfrauen-Tattoos überzogen waren.
»Tu ihm nichts, Bill. Er hat’s nicht mit Absicht gemacht!« Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Begleiters. Ihre bleiche Haut war übertrieben geschminkt. Ihre Lippen sahen aus wie ein blutiger Schlitz, und ihre Augenlider waren mit schwarzem Puder schattiert, was ihr Gesicht im Endergebnis wie einen Totenkopf aussehen ließ. »Er ist doch nur ein Kind.«
»Ich dachte, er wär ’n Dieb«, knurrte der Mann noch einmal, diesmal allerdings schon weniger aggressiv.
»Hinter mir sind Männer her«, stieß Sherlock zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Ich brauche Hilfe.«
»Du weißt, was sie in dieser Gegend mit kleinen Jungen alles anstellen«, sagte die Frau. »Das würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen. Tu was, Bill. Hilf dem Jungen.«
»Stell dich hinter mich«, sagte Bill. Da die Ärmel ohnehin schon einmal hochgekrempelt waren, schien er große Lust auf einen Kampf zu haben, und offensichtlich zerbrach er sich auch nicht allzu sehr den Kopf darüber, mit wem er es gleich zu tun bekommen würde.
Sherlock schlüpfte hinter den massigen Körper des Mannes, als seine Verfolger auch schon um die Ecke kamen.
»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Bill mit tiefer Stimme, die vor Gewaltbereitschaft nur so triefte. »Lasst das Kind in Ruhe.«
»Keine Chance«, erwiderte Denny, der an der Spitze der fünf Männer stand. Er brachte seine Hand in die Höhe, in der er ein Messer hielt. Das Licht der Nachmittagssonne perlte wie eine glühende Flüssigkeit auf dem scharfen Grat der Klinge entlang. »Der gehört uns.«
Bill langte nach dem Messer, doch Denny warf es von seiner rechten in die linke Hand und stieß es dann in einer raschen Vorwärtsbewegung in Bills Brust. Der Mann fiel auf die Knie, spuckte Blut und starrte mit ungläubigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Fast sah es so aus, als könnte er nicht akzeptieren, dass diese Sekunden hier im Straßendreck seine letzten auf Erden sein sollten.
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