»Sic exeo me ...«
Der Antiquar setzte seine Litanei fort. Corso warf einen letzten Blick auf ihn: Varo Borja kniete im Zentrum des magischen Kreises, das entstellte Gesicht andächtig über den Boden geneigt, und öffnete mit verklärtem Lächeln die letzte der neun Pforten. Seine blutigen Lippen bildeten einen diabolischen, dunklen Strich wie von einem Messerschnitt.
»Schweinehund«, sagte Corso. Und damit war der Vertrag für ihn aufgelöst.
Er stieg die überwölbte Treppe hinunter, dem grauen Tageslicht entgegen, das sich am Ende der Stufen abzeichnete. Im Innenhof angelangt, blieb er neben dem Brunnen mit den venezianischen Löwen vor dem Tor zur Straße stehen und sog genüßlich die saubere, frische Morgenluft ein. Dann fischte er das zerknitterte Päckchen aus seiner Manteltasche und klemmte sich die letzte Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie jedoch anzuzünden. So blieb er eine Weile still stehen, während sich der erste Strahl der aufgehenden Sonne, die er beim Eintritt in die Stadt hinter sich gelassen hatte, durch die grauen Steinfassaden des Platzes hindurch einen Weg zu ihm bahnte und das schmiedeeiserne Torgitter auf seinem Gesicht tanzen ließ. Der horizontal einfallende Strahl war so grell, daß Corso die übermüdeten, angestrengten Augen zusammenkneifen mußte. Als die Sonne dann höher stieg, drangen mehr Strahlen in den Innenhof und breiteten sich langsam um die venezianischen Löwen herum aus, die ihre Mähnen aus Marmor neigten, als würden sie von der Sonne gestreichelt. Das anfänglich nur zart schimmernde Licht verwandelte sich in eine Wolke aus Goldstaub, die Corso einhüllte. Da hörte er vom Ende der Treppe her, jenseits der letzten Tür ins Reich der Schatten, dort, wo das Licht dieser friedlichen Morgendämmerung niemals hindringen würde, einen Schrei - einen herzzerreißenden, unmenschlichen Schrei, einen Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung, in dem kaum noch die Stimme Varo Borjas wiederzuerkennen war.
Ohne sich umzudrehen, stieß Corso das Tor auf und trat auf die Straße hinaus. Er hatte das Gefühl, sich wie mit Siebenmeilenstiefeln zu entfernen - gerade so, als gehe er in wenigen Sekunden eine Strecke zurück, für die er auf dem Herweg ewige Zeit gebraucht hatte.
In der Mitte des sonnenüberfluteten Platzes blieb er geblendet stehen. Das Mädchen saß immer noch im Auto, und der Bücherjäger wurde von einem tiefen, egoistischen Jubelschauer erfaßt, als er feststellte, daß sie sich nicht mit den letzten Schatten der Nacht verflüchtigt hatte. Sie lächelte ihm voller Zärtlichkeit zu, unglaublich jung und schön, mit ihrer Jungenfrisur, der braungebrannten Haut, den ruhigen Augen, die erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Und der phantastische Goldglanz, den die schillernden grünen Augen verstrahlten, dieses Licht, vor dem die dunklen Winkel der alten Stadt, die Silhouetten der Kirchtürme und die gotischen Torbogen des Platzes zurückwichen, spiegelte sich in ihrem Lächeln, als Corso auf sie zuging. Nach ein paar Schritten senkte er resigniert den Kopf, bereit, sich von seinem eigenen Schatten zu verabschieden. Aber er hatte keinen Schatten zwischen den Füßen.
In dem von vier Wasserspeiern bewachten Haus hatte Varo Borja aufgehört zu schreien. Oder vielleicht schrie er noch, aber an irgendeinem düsteren Ort, der zu weit entfernt war, als daß seine Schreie noch bis auf die Straße gedrungen wären. Nunc scio: Jetzt weiß ich. Corso fragte sich, ob die Brüder Ceniza wohl Kunstharz oder Holz verwendet hatten, um die fehlende Bildtafel - Laune eines Kindes oder Barbarei eines
Sammlers - für Borjas Exemplar nachzudrucken. Wenn er an ihre geschickten, blassen Hände dachte, neigte er allerdings zur zweiten Möglichkeit: in Holz geschnitten und ohne jeden Zweifel von der Bibliografia von Mateu abgenommen. Deshalb gingen Varo Borjas Rechnungen nicht auf: In allen drei Exemplaren war die letzte Abbildung falsch. Ceniza sculpsit. Aus Liebe zur Kunst.
Er grinste mit zusammengebissenen Zähnen, wie ein grausamer Wolf, als er den Kopf senkte, um seine letzte Zigarette anzuzünden. Diese Art von Streichen spielen einem die Bücher nun einmal, sagte er sich. Und jeder hat den Teufel, den er verdient.
apokryph:unecht, später hinzugefügt
bibliophil:eigentlich bücherliebend; bibliophile Ausgabe: besonders schön gestaltete und wertvolle Ausgabe eines Werkes
Bibliophile:Liebhaber und Sammler schöner und seltener Bücher
Bogen:großer Papierbogen, der bedruckt, gefalzt und schließlich zu den einzelnen Seiten zerschnitten wird; üblicherweise ergibt ein Druckbogen 16 Seiten
Buchblock:die gesamten, zusammengetragenen Seiten eines Buches, noch ohne Fadenheftung oder Klebebindung und ohne Buchdeckel
Bund:die Heftschnüre am Buchrücken, die bei alten Büchern erhaben hervortreten
Büttenpapier:ursprünglich nur von Hand aus einer Bütte geschöpftes Papier, das aus Hadern hergestellt wurde
Duodez, Duodezformat:Buchformat zwischen Oktav und Sedez, für das der Druckbogen sechsmal gefaltet wird (Abk.: 12°); ein Bogen ergibt 12 Blatt, also 24 Seiten; siehe auch Folio-, Oktav-, Quart- und Sedezformat
Druckbogen:siehe Bogen
Elzevier:niederländische Buchhändler- und Buchdruckerfamilie im 16./17. Jahrhundert
Exlibris:künstlerisch gestaltetes, meist auf den Innendeckel eines Buches geklebtes Blatt mit dem Namen oder dem Buchzeichen des Eigentümers
Fadenheftung:der auf das endgültige Buchformat gefaltete Druckbogen wird mit einem Faden am Bund zusammengenäht
Faksimile:Nachbildung einer Buchseite oder eines ganzen Buches, die mit dem Original identisch ist
Filete:Goldlinienverzierung auf Bucheinbänden und Stempel, mit dem sie aufgeprägt wird
Fliegenkopf:Druckfehler, falscher oder auf dem Kopf stehender Buchstabe
Folio, Folioformat:Buchformat, für das der Druckbogen nur einmal gefaltet wird (Abk.: 2°); ein Bogen ergibt 2 Blatt, also
4 Seiten; siehe auch Duodez-, Oktav-, Quart- und Sedezformat
Frontispiz:Abbildung (oft des Autors), die dem Titelblatt eines Buches gegenübersteht Hadern:Stoffabfälle, Lumpen, aus denen Büttenpapier hergestellt wird
Hochdruck:Druckverfahren, bei dem die zu druckenden Teile der Druckform erhaben sind und mit Druckerschwärze eingefärbt werden
Holzschnitt:Abbildung, die in einen Holzstock geschnitten und von diesem abgezogen wird (ein Hochdruckverfahren)
Imprimatur:Druckerlaubnis einer weltlichen oder geistlichen Behörde
Index:Verzeichnis der von der katholischen Kirche verbotenen Schriften
Inkunabel:Buch, das im 15. Jahrhundert gedruckt wurde, auch Wiegendruck
Klischee:Bilddruckplatte oder Bilddruckstock
Kolophon:Vermerk am Ende alter Bücher über den Verfasser, den Druckort und das Druckjahr
Leporello:Buch, dessen Seiten aus einer harmonikaartig gefalteten Papierbahn bestehen
Oktav, Oktavformat:Buchformat, für das der Druckbogen viermal gefaltet wird (Abk.: 8°); ein Bogen ergibt 8 Blatt, also 16 Seiten; siehe auch Duodez-, Folio-, Quart- und Sedez-format
Pentagramm:Stern mit fünf Zacken, okkultes Symbol
Polyglotte Bibel:mehrsprachig abgefaßte Bibel
Quart, Quartformat:Buchformat, für das der Druckbogen zweimal gefaltet wird (Abk.: 4°); ein Bogen ergibt 4 Blatt, also 8 Seiten; siehe auch Duodez-, Folio-, Oktav- und Sedezformat
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