Jetzt sahen ihn diese Augen wieder an, smaragdgrün zwischen langen Wimpern. Das Mädchen war aufgewacht, hatte sich schläfrig an seiner Schulter gerieben, sich dann aufgesetzt und erschrocken umgeblickt.
»Hallo, Corso.«
Der Kapuzenmantel rutschte auf den Boden. Unter dem weißen Baumwoll-T-Shirt zeichnete sich ihr perfekter Oberkörper ab, geschmeidig wie ein junges Tier. »Was machen wir hier?«
»Warten.« Er wies auf die Stadt: Es sah immer noch aus, als werde sie vom Dunst des Flusses getragen. »Bis sie real wird.«
Das Mädchen schaute in die angedeutete Richtung, ohne gleich zu verstehen, was er meinte. Aber bald erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.
»Vielleicht wird sie das nie«, sagte sie.
»Dann bleiben wir hier oben. So schlecht ist der Platz doch gar nicht . mit dieser seltsamen, unwirklichen Welt zu unseren Füßen.« Er sah das Mädchen an und schwieg ein Weile, bevor er fortfuhr. »Alles werde ich dir geben, wenn du mich aus freiem Willen anbetest ... Irgendwas in der Art wolltest du mir doch gleich versprechen, oder?«
Das Lächeln des Mädchens war voller Zärtlichkeit. Sie neigte nachdenklich den Kopf und sah Corso in die Augen: »Nein. Ich bin arm.«
»Ja, das weiß ich.« Es stimmte, und um das zu wissen, brauchte er nicht erst in ihren leuchtenden Augen zu lesen. »Dein Gepäck, der Sitzplatz im Zug nach Lissabon ... Komisch. Ich war überzeugt, daß ihr dort, am anderen Ende des Regenbogens, über unbegrenzte Mittel verfügt.« Er verzog den Mund grinsend zu einem Strich, dünn wie die Klinge des Messers, das er noch immer in der Tasche trug. »Das Gold von Peter Schlemihl und so.«
»Dann hast du dich geirrt.« Sie preßte eigensinnig die Lippen zusammen. »Ich habe nur mich selbst.«
Das war auch wahr, und Corso wußte es ebenfalls von Anfang an. Sie log nie. Sie war naiv und weise zugleich, einfach ein verliebtes junges Mädchen auf der Jagd nach einem Schatten.
»Das sehe ich.« Er tat, als schwinge er einen Füllfederhalter durch die Luft. »Und du gibst mir kein Dokument zum Unterschreiben?«
»Ein Dokument?«
»Ja, früher hat man Pakt dazu gesagt. Jetzt ist es wahrscheinlich ein Vertrag mit viel Kleingedrucktem, habe ich recht? Im Streitfall wenden sich die Vertragspartner an das Gericht von Soundso. Schau mal, das ist lustig. Ich wüßte wirklich gerne, welches Gericht für diese Art von Prozessen zuständig ist.«
»Red keinen Quatsch.«
»Warum hast du mich ausgesucht?«
»Ich bin frei.« Sie seufzte melancholisch, als habe sie bereits dafür bezahlt, das sagen zu dürfen. »Und ich kann wählen. Das kann jeder.«
Corso kramte in seiner Manteltasche, bis er das zerknitterte Zigarettenpäckchen fand. Es enthielt nur noch eine Zigarette. Er zog sie raus, sah sie unentschlossen an und steckte sie dann wieder zurück. Vielleicht . nein, sicher würde er sie später dringender benötigen.
»Du hast alles von Anfang an gewußt«, sagte er. »Das waren zwei Geschichten, die nicht das geringste miteinander zu tun hatten. Deshalb hast du dich nie für die Dumas-Variante interessiert ... Milady, Rochefort, Richelieu waren nichts als Komparsen für dich. Jetzt verstehe ich auch deine verblüffende Passivität. Bestimmt hast du dich schrecklich gelangweilt. Du hast in deinen Musketieren herumgeblättert und mich auf den falschen Spielfeldern ziehen lassen.«
Das Mädchen sah durch die Windschutzscheibe hindurch auf die Stadt in ihrem bläulichen Dunstschleier. Sie hob die Hand, wie um ein Gegenargument vorzubringen, ließ sie dann aber wieder fallen, als habe das, was sie sagen wollte, sowieso keinen Sinn.
»Ich konnte kaum etwas anderes tun, als dir zur Seite zu stehen«, sagte sie nach einer Weile. »Bestimmte Wege muß jeder allein gehen. Hast du noch nie etwas vom freien Willen gehört?« Ihr Lächeln war traurig. »Manche von uns bezahlen ihn sehr teuer.«
»Aber du hast dich nicht immer rausgehalten. Als ich an der Seine von Rochefort überfallen wurde: Warum hast du mir da geholfen?«
Sie berührte mit einem Fuß die Segeltuchtasche.
»Der Typ war hinter dem Dumas-Manuskript her - aber die Neun Pforten waren auch in der Tasche. Ich wollte lästige Interferenzen vermeiden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem konnte ich nicht mitansehen, wie er dich schlägt.«
»Und in Sintra? Dort hast du mir gesagt, was Fargas passiert ist.«
»Klar. Da war das Buch ja auch im Spiel.«
»Und die Sache mit dem Stelldichein in Meung .«
»Davon wußte ich nichts. Das habe ich einfach aus dem Roman abgeleitet.«
»Ich dachte, ihr seid allwissend.«
»Dann hast du eben falsch gedacht.« Sie sah ihn ärgerlich an. »Überhaupt begreife ich nicht, warum du ständig im Plural von mir sprichst. Ich bin seit langem allein.«
Seit Jahrhunderten, dachte Corso. Und er hätte es beschwören können: Jahrhunderte der Einsamkeit - da war keine Täuschung möglich. Er hatte sie nackt umarmt, sich im Licht ihrer Augen verloren. Er war in diesem Körper drin gewesen, hatte ihre Haut geschmeckt, das sanfte Pulsieren ihres Halses auf den Lippen gespürt. Er hatte sie leise wimmern hören wie ein verängstigtes Kind oder ein gefallener, einsamer Engel auf der Suche nach Wärme. Und er hatte sie mit geballten Fäusten schlafen und unter Alpträumen leiden sehen, Alpträume von strahlenden blonden Engeln in ihren Rüstungen, unerbittlich, dogmatisch wie Gott selbst, der sie im Gänseschritt aufmarschieren ließ.
Durch sie konnte er Nikon jetzt, im nachhinein, gut verstehen, ihre Hirngespinste, die verzweifelte Gier, mit der sie sich ans Leben klammerte. Ihre Angst, ihre Schwarzweißfotos, ihr vergebliches Bemühen, die ererbten Erinnerungen an Auschwitz zu bannen, die Nummer, die sie ihrem Vater in die Haut tätowiert hatten, die Schwarze Ordnung, die alt ist wie der Geist des Menschen und der Fluch, der auf ihm lastet. Denn Gott und der Teufel konnten dasselbe sein - es war alles nur eine Frage des Blickwinkels.
Trotzdem blieb Corso grausam, genau wie er es mit Nikon gewesen war. Die Last war zu schwer für seine schwachen Schultern, und die Großherzigkeit eines Porthos besaß er nicht.
»Das war also deine Mission?« fragte er das Mädchen. »Über die Neun Pforten zu wachen? Dann glaube ich aber kaum, daß du einen Orden dafür bekommst.«
»Du bist ungerecht, Corso.«
Beinahe dieselben Worte. Das war wieder Nikon, hilflos den Stürmen des Lebens ausgeliefert, klein und zerbrechlich. An wen würde sie sich jetzt wohl in der Nacht klammern, um ihren Alpträumen zu entrinnen?
Er betrachtete das junge Mädchen. Vielleicht war die Erinnerung an Nikon sein persönlicher Fluch, aber er war nicht bereit, sich widerspruchslos damit abzufinden. Im Rückspiegel stand sein verkrampfter Mund.
»Ungerecht? Wir haben zwei der drei Bücher verloren. Und dann diese unsinnigen Todesfälle: Fargas und die Baronin Ungern. Du hättest sie verhindern können«, sagte er in vorwurfsvollem Ton, obwohl ihm die beiden im Grunde egal waren.
Sie schüttelte ernst den Kopf und wich seinem Blick keine Sekunde lang aus.
»Es gibt Dinge, die sich nicht vermeiden lassen, Corso. Es gibt Schlösser, die brennen, und Menschen, die hängen müssen, Hunde, die dazu prädestiniert sind, sich gegenseitig zu zerfleischen, Tugenden, die geköpft werden müssen, und Tore, die man aufmachen muß, damit andere sie passieren können ...« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Meine Mission - wie du es nennst - war, dafür zu sorgen, daß du deinen Weg sicher gehst.«
»Das war aber ein langer Weg, um letztendlich wieder am Ausgangspunkt anzukommen.« Corso deutete auf die dunstige Stadt. »Und jetzt muß ich da rein.«
»Du mußt nicht. Keiner zwingt dich dazu. Du kannst die ganze Geschichte vergessen und abhauen.«
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