Real schien im Augenblick jedenfalls nur sein Abbild auf dem brünierten Metallschild zu sein, das auf die Tür geschraubt war: ein Zerrspiegel, der einen Namen, einen Nachnamen und eine Silhouette enthielt, Corsos eigene Silhouette. Reglos hob sie sich vom Licht ab, das er hinter sich ließ - im Bogengang der Treppe, die in den Innenhof hinunterführte und von dort auf die Straße hinaus. Das war die letzte Station seiner seltsamen Reise zur Kehrseite der Schatten.
Er läutete. Einmal, zweimal, dreimal, ohne eine Reaktion von innen. Die Messingklingel war wie tot und leitete keinerlei hörbares Signal in das Haus weiter. Seine linke Hand berührte das zerknitterte Päckchen mit der letzten Zigarette in der Manteltasche, aber Corso widerstand auch jetzt der Versuchung. Er drückte ein viertes Mal auf den Klingelknopf. Und ein fünftes Mal. Schließlich schlug er mit der Faust an die Tür, kräftig, zweimal hintereinander. Da öffnete sie sich auf einmal - nicht mit einem unheimlichen Quietschen, sondern völlig lautlos, als wären die Angeln frisch geölt. Und auf der Schwelle erschien - auf die selbstverständlichste Art der Welt - Varo Borja.
»Tag, Corso.«
Borja schien nicht überrascht, ihn wiederzusehen. Sein kahler Schädel und die Stirn waren schweißbedeckt, das Gesicht war unrasiert, die Weste offen, und die Ärmel seines Hemds hatte er bis über die Ellbogen aufgekrempelt. Er wirkte erschöpft. Über seinen Wangenknochen zeichneten sich tiefe Ringe ab, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen, aber seine Augen glänzten ungewöhnlich - fiebrig, eindringlich. Er fragte seinen Besucher nicht, was er um diese Uhrzeit von ihm wolle, und bekundete kein Interesse für das Buch, das Corso unterm Arm hatte. Mehrere Sekunden rührte er sich überhaupt nicht vom Fleck und starrte ihn an, wie jemand, der bei einer diffizilen Arbeit unterbrochen oder aus Tagträumereien gerissen worden war und so schnell wie möglich wieder allein gelassen werden möchte.
Das war der Mann. Corso nickte innerlich, während ihm seine eigene Dummheit bewußt wurde. Varo Borja, natürlich: Millionär, weltberühmter Buchantiquar, angesehener Bibliophiler und methodischer Mörder. Mit beinahe wissenschaftlichem Interesse begann der Bücherjäger dieses Gesicht zu studieren, das er schon so oft gesehen hatte. Jetzt versuchte er, einzelne Züge zu isolieren, Merkmale zu entdecken, die ihn schon früher hätten warnen müssen - Spuren, die ihm entgangen waren, Winkel des Wahnsinns, des Grauens oder der Schatten in dieser vulgären Physiognomie, die er einmal zu kennen geglaubt hatte. Aber er konnte nichts finden, nur diesen fiebrigen, verklärten Blick, der weder Neugier noch Leidenschaft verriet, entrückt war in eine Bilderwelt, in welcher der Störenfried vor seiner Haustür nichts verloren hatte. Und doch trug Corso sein Exemplar des verfluchten Buches unterm Arm. Und er, Varo Borja, war ihm nachgeschlichen wie eine gefährliche Schlange und hatte im Schatten eben dieses Buches Victor Fargas und die Baronin Ungern getötet. Nicht nur um die siebenundzwanzig Holzschnitte und damit die neun richtigen Bildtafeln zusammenzubekommen, sondern auch um alle Spuren zu verwischen, auf daß es fortan nie wieder jemandem gelingen würde, das von Aristide Torchia aufgegebene Rätsel zu lösen. Varo Borja hatte den Bücherjäger in dieser ganzen Intrige nur benützt, um eine Hypothese zu bekräftigen, die sich als richtig herausstellen sollte: die Hypothese vom Buch, das eigentlich aus dreien bestand. Nebenbei war er zudem ein praktischer »Blitzableiter« für die Polizei. Corso mußte sich nachträglich zu seinem eigenen Instinkt gratulieren, denn jetzt fiel ihm auch wieder das seltsame Gefühl ein, das ihn beim Anblick des Deckengemäldes in der Quinta da Soledade beschlichen hatte - die Opferung Isaaks. Klar: der Sündenbock war er! Und der Buchhändler, der Victor Fargas zweimal im Jahr besuchte, um ihm einen Teil seiner Schätze abzukaufen, war natürlich Varo Borja. Während er sich noch in der Villa des Bibliophilen aufhielt, hatte Borja bereits in Sintra auf der Lauer gelegen und die letzten Details seines Planes ausgeheckt - in Erwartung, daß der Bücherjäger ihm seine These bestätigen würde, nämlich, daß alle drei Exemplare der Neun Pforten notwendig waren, um das Rätsel des Buchdruckers Torchia zu knacken. Für Borja war die Quittung gedacht gewesen, in der nur der Name des Käufers fehlte. Und deshalb hatte Corso ihn zu Hause, in Toledo, nicht telefonisch erreichen können. Freilich hatte Borja ihn dann noch in derselben Nacht - vor dem letzten Besuch bei Fargas - im Hotel angerufen und ein Auslandsgespräch vorgetäuscht. Und der Bücherjäger hatte ihm nicht nur seine Vermutungen bestätigt, sondern gleich auch noch den Schlüssel des Geheimnisses mitgeliefert und damit das Todesurteil über Victor Fargas und die Baronin Ungern verhängt.
Alle Teile des unheilvollen Puzzles paßten zusammen. Wenn Corso von zufälligen Übereinstimmungen mit der Intrige des Club Dumas absah - die falschen Bezüge, die er selbst hergestellt hatte -, so war Varo Borja der Schlüssel zu all den unerklärlichen Ereignissen dieses zweiten Erzählstrangs. Der diabolische Drahtzieher. Corso war nahe dran, in schallendes Gelächter auszubrechen, nur die tödlichen Folgen dieses verdammten Komplotts hielten ihn davon ab.
»Ich bringe Ihnen Ihr Buch zurück«, sagte er und hielt dem Antiquar die Neun Pforten hin.
Varo Borja nickte zerstreut, während er den Band entgegennahm, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Er drehte nur ein wenig den Kopf zur Seite, als lausche er auf irgendein Geräusch hinter seinem Rücken, im Inneren des Hauses. Nach einer Weile wandte er sich wieder zu Corso um und blinzelte, verwundert, daß er noch da war.
»Sie haben mir das Buch gegeben. Was wollen Sie noch?«
»Den Lohn für meine Arbeit.«
Der Antiquar starrte ihn verständnislos an. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit weg. Schließlich zuckte er gleichgültig mit den Achseln, drehte sich um, schlurfte ins Haus zurück und überließ es Corso, die Tür zu schließen, im Eingang stehenzubleiben oder unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.
Corso folgte ihm durch das Vestibül und einen langen Korridor in das Zimmer mit der Sicherheitstür. Die Fensterläden waren geschlossen, und die Möbel hatte man zur Seite geschoben, um den schwarzen Marmorboden frei zu machen. Die Glastüren einiger Bücherschränke standen offen. Dutzende von Kerzen, die beinahe abgebrannt waren, erleuchteten das Zimmer. Überall tropfte Wachs - auf das Sims des erloschenen Kamins, auf den Boden, auf die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände des Zimmers. Die rötlichen Flammen flak-kerten bei jeder Bewegung und beim geringsten Luftzug. Es roch wie in einer Kirche oder Krypta.
Varo Borja, der sich nach wie vor nicht um Corso kümmerte, blieb in der Mitte des Raumes stehen. Dort war, genau zu seinen Füßen, ein Kreidekreis von etwa einem Meter Durchmesser auf den Boden gezeichnet. Der Kreis enthielt ein Quadrat, das seinerseits in neun Kästchen unterteilt war. Römische Ziffern und seltsame Gegenstände umgaben ihn: ein Stück Schnur, eine Wasseruhr, ein rostiges Messer, ein Silberarmband in Form eines Drachens, ein goldener Ring, glühende Kohle in einem kleinen Metallgefäß, eine Glasampulle, ein Häufchen Erde, ein Stein. Aber es war noch mehr über den Fußboden verstreut, und Corso verzog mißbilligend das Gesicht: Viele der Bücher, die er erst kürzlich, sauber aneinandergereiht, in ihren Vitrinen bewundert hatte, lagen jetzt schmutzig und zerstört auf den Marmorfliesen herum, herausgerissene, lose Blätter, unterstrichen und mit rätselhaften Zeichen besudelt. Auf mehreren der wertvollen Exemplare brannten Kerzen, deren Wachs in dicken Tropfen auf die Einbände oder aufgeschlagenen Seiten floß - manche Kerzen waren bereits so weit heruntergebrannt, daß sie sogar schon das Papier angesengt hatten. Inmitten dieses Durcheinanders entdeckte der Bücherjäger die Holzschnitte aus den Neun Pforten, die Victor Fargas und der Baronin Ungern gehört hatten. Sie waren ebenfalls wachsbefleckt und mit mysteriösen Anmerkungen versehen.
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