»Ich wäre auch bereit, dir zu applaudieren.«
Diesmal steckte keine Ironie in ihrer Bemerkung. Sie beobachtete ihn gespannt und wartete auf ein Wort von ihm oder eine Geste.
Corso trat verlegen von einem Bein aufs andere.
»Ich weiß«, sagte er. Das Mädchen sah ihm unverwandt in die Augen, als habe sie tatsächlich nichts zu verbergen. »Und ich frage mich, warum.«
Beinahe hätte er noch hinzugefügt: »Das ist kein Krimi, sondern die nackte Realität«; aber er tat es nicht, denn bei den absurden Ausmaßen, die diese Geschichte mittlerweile angenommen hatte, kam ihm die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie ziemlich verwischt vor. Er, Corso, war ein Mensch aus Fleisch und Blut, er hatte einen Personalausweis und einen festen Wohnsitz, und überdies verfügte er gerade jetzt, wo ihm von der Episode auf der Treppe sämtliche Knochen weh taten, über ein ausgeprägtes Körperbewußtsein. Trotzdem erlag er zusehends der Versuchung, sich als reale Figur in einer irrealen Welt zu empfinden, und das fand er - verdammt noch mal -gar nicht witzig, denn von hier zur Vorstellung, er sei eine irreale Figur, die sich in einer irrealen Welt als real empfindet, war es nur ein winziger Schritt - der Schritt vom Normalsein zum Überschnappen. Und er fragte sich, ob irgend jemand, ein versponnener Romanschriftsteller oder ein versoffener Drehbuchschreiberling, ihn sich in diesem Moment womöglich als »irreale« Figur dachte, die sich in einer »irrealen« Welt »irreal« vorkommt. Das hätte ihm nun vollends den Rest gegeben.
Am Ende dieser komplexen Überlegungen war seine Kehle völlig ausgedörrt. Corso stand immer noch unschlüssig vor dem Mädchen, die Hände in den Manteltaschen vergraben und die Zunge wie mit Sandpapier belegt. Wenn ich irreal wäre, dachte er erleichtert, stünden mir die Haare zu Berge, und ich würde mit schweißbedeckter Stirn »O grausames Schicksal!« ausrufen oder etwas Ähnliches. Aber ich hätte nicht diesen Saudurst. Ich trinke, also bin ich. Mit diesem Gedanken stürzte er sich auf die Minibar, sprengte die Banderole, riß ein Fläschchen Gin heraus und leerte es noch im Knien auf einen Zug. Er lächelte beinahe, als er sich wieder erhob und den Kühlschrank schloß wie der Pfarrer den Tabernakel. Langsam kamen die Dinge wieder ins Lot.
Das Zimmer war dunkel. Nur aus dem Bad fiel gedämpft ein schräger Streifen Licht auf das Bett, auf dem das Mädchen lag. Er betrachtete ihre bloßen Füße, die Beine in den Jeans, das blutbefleckte T-Shirt. Danach wanderte sein Blick zu ihrem nackten braunen Hals, zu den leicht geöffneten Lippen und den weißen Schneidezähnen, die in der Dunkelheit leuchteten, zu ihren Augen, die ihn unverwandt ansahen. Corso umklammerte seinen Zimmerschlüssel in der Manteltasche und schluckte. Er mußte hier weg.
»Fühlst du dich jetzt besser?«
Sie nickte wortlos, und Corso warf einen Blick auf seine Uhr, obwohl ihm die Zeit völlig gleichgültig war. Er konnte sich nicht daran erinnern, beim Hereinkommen das Radio eingeschaltet zu haben, aber von irgendwoher kam Musik. Ein melancholisches französisches Lied. Ein Hafen und ein Barmädchen, das in einen unbekannten Matrosen verliebt war.
»Gut. Ich muß gehen.«
Die Frauenstimme im Radio leierte weiter ihr Lied. Der Matrose war - wie zu erwarten - auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und dem wehmütigen Barmädchen blieb sein leerer Stuhl und der feuchte Abdruck seines Glases auf dem Tisch. Corso holte sein Taschentuch, das auf dem Nachtkästchen lag, und putzte sich mit einem sauberen Zipfel das beschlagene Brillenglas. In diesem Moment sah er, daß die Nase des Mädchens erneut zu bluten begann.
»Schon wieder«, sagte er.
Abermals rann ihr ein dünner Faden Blut über die Oberlippe in den Mundwinkel. Sie fuhr sich mit der Hand über die Lippen und lächelte stoisch über ihre rot verfärbten Finger.
»Macht nichts.«
»Du solltest dich von einem Arzt untersuchen lassen.«
Sie senkte ein wenig die Augenlider und schüttelte sanft den Kopf. Dicke dunkle Tropfen fielen auf das Kissen, und sie wirkte sehr hilflos, wie sie so in dem dämmrigen Zimmer lag. Corso, der noch immer seine Brille in der Hand hatte, setzte sich auf den Bettrand und beugte sich mit dem Taschentuch zu ihr. Sein Schatten, den das schräg aus dem Bad einfallende Licht an die Wand projizierte, schien einen Moment lang zwischen Licht und Dunkelheit zu schwanken, bevor er sich in einer Ecke verlor.
Da tat das Mädchen etwas Unerwartetes, Seltsames. Ohne das Taschentuch zu beachten, das er ihr hinhielt, hob sie ihre blutige Hand und zeichnete Corso von der Stirn bis zum Kinn mit den Fingern vier rote Streifen ins Gesicht. Nach dieser eigenartigen Liebkosung zog sie ihre Hand nicht zurück, sondern ließ sie sanft auf seiner Wange ruhen, warm und feucht, während er die Blutstropfen auf ihrer vierfachen Spur über seine Haut rinnen fühlte. Ihre schillernden Iris reflektierten das Licht, das durch die angelehnte Tür drang, und Corso überlief ein Schauer, als er in ihnen seinen verlorenen Schatten wiederfand.
Im Radio erklang jetzt ein anderes Lied, aber sie hörten beide nicht mehr hin. Das Mädchen roch nach Wärme und Fieber, und unter der Haut ihres nackten Halses pochte eine Ader. Licht und Schatten in dem Zimmer flossen ineinander und schufen eine dämmrige Atmosphäre, in der die Umrisse der Gegenstände sich auflösten. Sie murmelte mit kaum wahrnehmbarer Stimme unverständliche Worte vor sich hin, und aus ihren Augen sprühten winzige Funken, als ihre Hand zu Corsos Nacken glitt und das warme Blut über seinen Hals verteilte. Mit dem Geschmack eines dieser Tropfen auf der Zunge, beugte er sich zu ihr vor, den halb geöffneten weichen Lippen entgegen, aus denen jetzt ein sanftes Stöhnen hervorquoll. Es schien von weit, weit her zu kommen, schwach und monoton, als wäre es viele Jahrhunderte alt. Einen kurzen Augenblick lang hatte Lucas Corso das Gefühl, in ihrem pulsierenden Fleisch alle früheren Tode noch einmal zu erleben, als würden sie von der Strömung eines ruhigen dunklen Flusses, dessen Wasser zäh war wie Ölfarbe, ans Ufer geschwemmt. Und er bedauerte es, daß sie keinen Namen hatte, unter dem er diesen Augenblick in sein Bewußtsein hätte einprägen können.
Aber dieser Eindruck hielt nur wenige Sekunden an. Dann kam der Bücherjäger wieder zu sich und merkte, daß er, noch immer mit seinem Mantel bekleidet, auf der Bettkante saß und das verdatterte Gesicht eines Vollidioten machte. Das Mädchen hatte sich ein wenig von ihm zurückgezogen, wölbte jetzt den Rücken wie ein schönes, junges Tier und öffnete den Knopf ihrer Hose. Er beobachtete sie wohlwollend mit dieser halb skeptischen, halb erschöpften Miene, die er sich bisweilen zugestand - alles in allem eher neugierig als begehrlich. Sie zog ihren Reißverschluß nach unten und entblößte dabei ein dunkles Dreieck, das einen Kontrast zu dem weißen Baum-wollslip bildete, der zusammen mit den Jeans über die Hüften gestreift wurde. Ihre langen braunen Beine auf dem Bett brachten Corso um den Atem, wie sie vorher Rochefort um seine Zähne gebracht hatten. Als nächstes hob sie die Arme an, um sich das T-Shirt auszuziehen. Ihre Bewegungen wirkten völlig natürlich, also weder kokett noch gleichgültig, und die sanften, ruhigen Augen waren auf ihn geheftet, bis ihr Gesicht unter dem T-Shirt verschwand. Jetzt wurden die Kontraste noch intensiver: noch mehr weiße Baumwolle, die diesmal nach oben rutschte und ihren tief gebräunten Bauch freigab, das feste warme Fleisch, die schlanke Taille ... die schweren, perfekt geformten Brüste, die sich im dämmrigen Licht abzeichneten . der Halsansatz, die halb geöffneten Lippen und dann wieder diese Augen, die strahlten, als hätten sie dem Himmel das Licht geraubt. In ihnen entdeckte Corso seinen Schatten wieder, der gefangen war wie eine Seele auf dem Grund einer Kristallkugel oder eines Smaragdes.
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