»Weil die erste Auflage von der Inquisition verbrannt worden ist«, erwiderte Pablo Ceniza.
»Das wäre eine Erklärung«, stimmte Corso zu. »Irgend jemand, der im Besitz der von Aristide Torchia benützten Klischees und Typen war, hat das Buch nachgedruckt.«
Der ältere der beiden Brüder war dabei, mit einem Bleistift etwas auf ein Blatt zu kritzeln.
»Möglich. Aber ich finde die anderen Alternativen oder Hypothesen plausibler ... Stellen Sie sich zum Beispiel vor ;daß es sich bei dem Buch um ein authentisches, aber lückenhaftes Exemplar handelt, aus dem ein paar Seiten herausgerissen wurden oder verlorengegangen sind, und daß jemand mit Papier der Zeit, einer guten Drucktechnik und sehr viel Geduld die fehlenden Seiten ersetzt hat. In diesem Fall gäbe es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder die hinzugefügten Seiten wurden aus einem anderen, vollständigen Exemplar kopiert, oder aber sie sind frei erfunden, da es keine Originale gab, die als Vorlage hätten dienen können.« Der Buchbinder zeigte Corso, was er gezeichnet hatte. »Hier hätten wir es dann mit einer echten Fälschung zu tun, wie Sie auch auf diesem Schema sehen können.«
Während Corso und der jüngere Bruder die Zeichnung betrachteten, blätterte Pedro Ceniza noch einmal die Neun Pforten durch.
»Ich will Ihnen sagen, was ich glaube«, meinte er, als die beiden sich ihm zuwandten. »Wenn gefälschte Seiten in das Buch eingefügt worden sind, dann muß das entweder in der Zeit des Erstdrucks geschehen sein oder aber in unseren Tagen.
Die Zeitspanne dazwischen können wir ausschließen, da es bis vor kurzem unmöglich war, alte Schriftstücke mit einer solchen Perfektion zu reproduzieren.«
Corso gab ihm das Schema zurück.
»Angenommen, Sie haben es mit einem lückenhaften Exemplar zu tun, das Sie mit modernen Techniken vervollständigen wollen ... Wie würden Sie vorgehen?«
Die Brüder Ceniza seufzten im Gleichtakt, tief und professionell: Allein bei dem Gedanken an eine solche Möglichkeit lief ihnen das Wasser im Munde zusammen. Beide hatten jetzt den Blick auf die Neun Pforten geheftet.
»Gut«, hob der Ältere an. »Stellen wir uns also vor, wir hätten dieses Buch von 168 Seiten, und die Seite 100 würde fehlen ... 100 und 99 natürlich, denn schließlich hat jedes Blatt zwei Seiten. Und wir möchten diese Seite ersetzen. Das Kunststück besteht darin, einen Zwilling aufzutreiben.«
»Einen Zwilling?«
»So nennt man das im Fachjargon«, erklärte Pablo Ceniza. »Ein anderes, vollständiges Exemplar.«
»Oder eins, in dem wenigstens die beiden Seiten erhalten sind, die wir kopieren müssen. Wenn möglich, vergleichen wir auch den ganzen Zwilling mit unserem lückenhaften Exemplar, um festzustellen, ob es Unterschiede in der Drucktiefe gibt oder ob die Typen in einem abgenützter sind als im anderen ... Sie kennen das ja: Zu einer Zeit, in der die Lettern beweglich waren und sich im Handdruck schnell abnützten oder beschädigt wurden, konnten das erste und das letzte Exemplar ein und derselben Auflage unter Umständen große Unterschiede aufweisen . verbogene oder kaputte Typen, unterschiedliche Schwärzungen und ähnliches. Diese Untersuchung würde uns später in die Lage versetzen, kleine Mängel aus der einzufügenden Seite auszumerzen oder im Gegenteil anzubringen, um sie den restlichen Seiten anzugleichen ... Als nächstes würden wir eine plastische Photolithographie anfertigen. Und von dieser würden wir einen Polymer- oder Zinkabdruck machen.«
»Ein Klischee aus Kunstharz oder Metall«, sagte Corso.
»Genau. So perfekt die modernen Reprotechniken auch sind, man würde mit ihnen nie dasselbe Resultat erzielen wie mit den alten Holz- oder Bleidruckformen, also diesen charakteristischen Reliefcharakter auf dem Papier. Deshalb müssen wir die ganze Seite in formbarem Material wie Kunstharz oder Metall reproduzieren und ein Klischee herstellen, dessen technische Eigenschaften mit denen der alten Druckplatte vergleichbar sind, die 1666 aus beweglichen Lettern zusammengesetzt wurde. Dann kommt dieses Klischee in die Presse, und wir machen einen Handabzug, genau wie vor vierhundert Jahren ... Natürlich auf Papier der Zeit, das vorher und nachher mit den entsprechenden Methoden künstlich gealtert wird. Schließlich würden wir auch die Zusammensetzung der Druckfarbe eingehend studieren und sie mit chemischen Substanzen derart präparieren, daß sie mit der alten Druckfarbe identisch ist. Und damit ist das Verbrechen auch schon perfekt.«
»Was aber, wenn es kein Original der Seite gibt? Keine Vorlage, nach der die beiden fehlenden Seiten kopiert werden können?«
Die Brüder Ceniza lächelten selbstsicher und wie immer unisono.
»Dann«, erwiderte der Ältere, »wird die Arbeit erst richtig spannend.«
»Forschung und Phantasie«, fügte der andere hinzu.
»Und natürlich Wagemut, Senor Corso. Gehen wir davon aus, daß Pablo und ich dieses lückenhafte Exemplar der Neun Pforten haben. In diesem Fall verfügen wir mit den restlichen 166 Seiten über einen ganzen Katalog von Lettern und Zeichen, die der ursprüngliche Drucker benützt hat. Wir verwenden diesen Katalog als Vorlage, um ein vollständiges Alphabet zusammenzustellen. Dieses Alphabet übertragen wir dann auf Photopapier, weil das einfacher zu handhaben ist, und vervielfältigen jeden Buchstaben so oft wie es nötig ist, um die ganze Seite zu setzen. Noch kunstgerechter wäre es natürlich, die Typen aus Blei zu gießen, wie es die Drucker früher gemacht haben . Aber das ist für uns leider zu aufwendig und zu teuer. Wir müssen wohl oder übel mit den modernen Techniken vorliebnehmen. Wir schneiden also mit einer Klinge die einzelnen Buchstaben aus, und dann setzt Pablo von Hand die beiden Seiten, Zeile für Zeile, genau wie ein Setzer aus dem 17. Jahrhundert. Wenn das geschehen ist, machen wir noch einmal einen Probeabzug auf Papier, korrigieren unregelmäßige Abstände zwischen den einzelnen Buchstaben und ähnliche kleine Fehler - oder bauen im Gegenteil Mängel ein, wie sie in den Buchstaben, Linien und Seiten des Originaltextes vorkommen. Zum Schluß fertigen wir ein Negativ an und davon eine plastische Druckplatte: das endgültige Klischee.«
»Und wenn es sich bei den fehlenden Seiten um Illustrationen handelt?«
»Das ist egal. Wenn wir über die Originalzeichnung verfügen, ist das Reproduktionsverfahren sogar noch einfacher. Mit Holzschnitten wie diesen hier, deren Linien klarer sind als die von Kupferstichen oder Radierungen, läßt sich saubere Arbeit leisten.«
»Nehmen wir an, die Originalzeichnung sei verschollen.«
»Das wäre auch kein Problem. Wenn wir sie aus Beschreibungen kennen, fertigen wir sie danach an. Wenn nicht, erfinden wir sie. Natürlich nach eingehendem Studium der anderen, erhaltenen Bildtafeln. Das kann jeder bessere Zeichner.«
»Und der Druck?«
»Sie wissen ja selbst, daß Holzschnitte im Hochdruckverfahren vervielfältigt werden: Die Zeichnung wird zuerst auf einen längs der Faser geschnittenen, weiß grundierten Holzstock übertragen. Dann wird sie mit dem Messer herausgeschnitten, so daß sie erhaben stehenbleibt, eingefärbt und auf Papier abgezogen . Wer einen Holzschnitt reproduzieren will, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er überträgt die Zeichnung auf Kunstharz, oder er arbeitet selbst mit Holz, genau wie die Künstler vor Hunderten von Jahren; in diesem Fall wird direkt vom Holzstock gedruckt . Da mein Bruder ein ausgezeichneter Holzschneider ist, würden wir nach dieser handwerklichen Methode verfahren. Kunst soll Kunst nachahmen, wo immer möglich.«
»Das ist sauberer«, warf Pablo ein.
Corso zwinkerte ihm komplizenhaft zu.
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