»Wie spät?« fragte der Mann, indem er Georg von oben bis unten musterte, da er ihn augenscheinlich für ein verdächtiges Subjekt hielt. »Ei, wenn Sie aufpassen, werden Sie gleich die Turmuhr schlagen hören.«
Georg lauschte, und eine benachbarte Glocke war sofort so gefällig zu schlagen.
»Ja, es hat aber nur drei geschlagen!« rief Georg ganz beleidigt aus.
»Nun, wieviel hätte es für Sie denn schlagen sollen?« fragte der Polizeidiener.
»I, nun – neun Uhr,« – sagte Georg, indem er auf die Uhr zeigte.
»Wissen Sie, wo Sie wohnen?« fragte der Mann des Gesetzes in strengem Tone.
Georg dachte etwas nach und gab ihm dann seine Adresse an.
»O, da wohnen Sie wirklich?« sagte der Mann. »Nun, ich denke, Sie folgen meinem Rat und gehen hübsch ruhig dahin, stecken diese Ihre Uhr wieder in die Tasche und lassen uns im übrigen ungeschoren.«
In tiefe Betrachtungen versunken, ging Georg heim und war wiederum sein eigener Portier. Zuerst wollte er sich wieder auskleiden und noch einmal zu Bette gehen – aber da dachte er, daß er sich dann ja noch einmal ankleiden und waschen und baden müßte, und so entschloß er sich, aufzubleiben und im Armstuhl zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht, wieder in Schlaf zu fallen; er war in seinem ganzen Leben nie so munter gewesen. So zündete er sich denn die Lampe an, zog das Schachspiel heraus und spielte eine Partie Schach mit sich selbst. Aber auch das konnte keine rechte Freude in ihm erwecken. Er wußte nicht, wie es kam; aber diese Unterhaltung dünkte ihn nachgerade etwas langweilig; so gab er denn das Schachspiel auf und versuchte etwas zu lesen. Aber die Fähigkeit, sich für irgendein Buch zu interessieren, schien ihm plötzlich abhanden gekommen zu sein. So zog er denn seinen Überrock wieder an und trat hinaus, um einen Spaziergang zu machen.
Draußen war es schrecklich einsam und düster; alle Polizeidiener, die ihm begegneten, schauten ihn mit unverhohlenem Argwohn an, richteten ihre Laternen auf ihn und gingen ihm nach.
Das übte eine solch niederschmetternde Wirkung auf ihn aus, daß er sich zuletzt wie ein wirklicher Bösewicht vorkam und sich seitwärts in die Nebengäßchen schlug und an dunklen Einfahrtstoren verkroch, wenn er die heilige Hermandad anrücken hörte.
Natürlich machte dies Benehmen die Polizei nur noch mißtrauischer gegen ihn. Sie kamen, stöberten ihn hervor und fragten ihn, was er da zu tun habe; und wenn er nun antwortete: Nichts, er habe nur ein bißchen bummeln wollen – es war' jetzt vier Uhr morgens –, schauten sie ihn ungläubig an, und zwei dunkelgekleidete Konstabler begleiteten ihn nach Hause, um zu sehen, ob er wirklich da wohne, wo er angab. Als sie ihn mit seinem Schlüssel öffnen und hineingehen sahen, nahmen sie dem Hause gegenüber Aufstellung und beobachteten es.
Als er wieder in seiner Wohnung angekommen war, wollte er sich ein Feuer anzünden und sich ein kleines Frühstück bereiten, eben nur um sich die Zeit zu vertreiben; aber es schien ihm, als ob er unfähig sei, irgend etwas, ob es nun Kohlenschaufel oder Teelöffel hieß, in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen oder darüber zu stolpern und einen solchen Lärm zu verursachen, daß er in Todesangst sein mußte, er würde Frau Gippings aufwecken; diese würde dann sicherlich glauben, es seien Einbrecher im Hause; sie würde das Fenster aufreißen und nach der Polizei schreien, und dann würden die zwei Geheimpolizisten hereinstürmen, ihm Handschellen anlegen und ihn nach der Polizeistation bringen.
Er hatte sich in eine tödliche Aufregung hineingearbeitet und malte sich jetzt das Verhör und seine ganz vergeblichen Versuche, dem Gerichtshofe die betreffenden Umstände klar zu machen, in den schwärzesten Farben aus – er sah sich im Geiste schon zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt und seine Mutter an gebrochenem Herzen sterben.
So gab er denn den Gedanken auf, sich ein Frühstück zu bereiten, hüllte sich in seinen Überrock und blieb im Lehnstuhl sitzen, bis Frau Gippings um halb acht Uhr herunterkam.
Georg sagte, seit jenem Morgen sei er nie wieder zu früh aufgestanden, so sehr habe er sich jenen Fall zur Warnung dienen lassen.
Während Georg mir diese wahrhaftige Geschichte erzählte, hatten wir, in unsere Pelze eingehüllt, dagesessen, und als er damit zu Ende war, machte ich mich daran, Harris mit einem Ruder aufzuwecken; der dritte Stoß hatte die beabsichtigte Wirkung; er legte sich auf die andere Seite und sagte, er werde im Augenblick hinunterkommen, man solle ihm heute seine Schnürstiefel bringen. Wir ließen ihn aber mit Hilfe des Boothakens bald merken, wo er sich befinde; er richtete sich plötzlich in die Höhe, indem er zugleich Montmorency, der mitten auf seiner Brust den Schlaf des Gerechten geschlafen, zappelnd und krabbelnd auf den Boden des Bootes warf.
Dann schlugen wir die Leinwand etwas zurück, streckten alle vier die Köpfe hinaus, sahen hinab auf das Wasser – und schauderten. Am Abend zuvor hatten wir den Gedanken gehabt, heute morgen früh aufzustehen, unsere Teppiche und Schals abzuwerfen, uns mit einem fröhlichen Sprung kopfüber in das Wasser zu stürzen und uns durch ein langes, köstliches Schwimmbad zu erfrischen. Aber sonderbar – jetzt am Morgen schien uns das Bad viel weniger verführerisch. Das Wasser sah so feucht und frostig aus, und der Wind war so kalt.
»Na!« sagte Harris, »wer wird der erste sein?« Es gab aber keinen edlen Wettstreit wegen des Vortritts. Georg kam sofort zu einem Entschluß, soweit ihn die Sache betraf. Er kehrte in die Mitte des Bootes zurück und zog seine Socken an.
Montmorency stieß unwillkürlich ein Geheul aus, als ob ihm schon der Gedanke an ein solches Frühbad Grausen erregt hätte. Harris meinte, es würde so schwierig sein, nach dem Bade wieder in das Boot zu steigen, wandte sich ebenfalls zurück und suchte sich seine Beinkleider aus.
Ich wollte mich nicht gerade feig zeigen, obschon auch mir das Frühbad nicht behagen wollte. Da unten könne es verborgene Pfosten oder Tang geben, dachte ich. Da entschloß ich mich zu einem Vergleich: ich wollte am Rande des Flusses nur eben ein bißchen Wasser über mich herspritzen. So ergriff ich denn ein Badetuch, stieg aus und kroch bis zu einem ins Wasser hängenden Ast eines Uferbaumes. Es war bitterlich kalt. Der Wind schnitt wie ein Messer. Ich dachte, ich wollte doch lieber kein Wasser über mich spritzen, sondern in das Boot zurückkehren und mich ankleiden.
Ich wandte mich, um dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, aber beim Umkehren brach der dumme Zweig, an dem ich mich gehalten hatte, ab: ich stürzte samt dem Tuch mit einem fürchterlichen Platschen ins Wasser und war, ehe ich mich recht besinnen konnte, was geschehen war, draußen mitten im Strome, mit einem Maß Themsewasser im Leibe.
»Bei Gott! Der alte Jerome hat sich hineingewagt,« hörte ich Harris sagen, als ich spritzend und pustend wieder an die Oberfläche kam. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so viel Mut haben würde; hättest du es ihm zugetraut?« »Ist es nett?« rief Georg zu mir herüber. »O herrlich!« sprudelte ich zurück. »Ihr seid recht dumm, wenn ihr nicht auch 'rein kommt. Nicht um die Welt würde ich auf dieses Vergnügen verzichten. Warum wollt ihr es denn nicht auch versuchen? Es braucht nur etwas Entschlossenheit!«
Aber ich konnte sie nicht überreden.
An diesem Morgen passierte uns beim Ankleiden noch eine heitere Geschichte. Mir war sehr kalt, als ich von meinem Bade wieder ins Boot stieg; wie ich nun hastig mein Hemd anziehen wollte, fiel es mir ins Wasser. Ich erboste mich schrecklich darüber, besonders weil Georg in ein furchtbares Gelächter ausbrach. Ich konnte doch gar nichts Lächerliches dabei finden, wie ich Georg auch auseinandersetzte, aber er lachte nur noch unbändiger. Ich habe niemals einen Menschen so lachen sehen. Ich geriet zuletzt ganz außer mir und bedeutete ihm, was für ein närrischer, hirnverbrannter, verschrobener, verrückter Kerl er sei; aber er lachte nur noch unsinniger. Da bemerkte ich, als ich eben das Hemd wieder herausgefischt hatte, daß es gar nicht mein Hemd war, sondern Georgs, das ich in der Eile mit dem meinigen verwechselt hatte. Das erweckte in mir plötzlich das Verständnis für den Humor der Sache, und nun fing ich an zu lachen. Und je länger ich Georgs nasses Hemd und dann wieder den aus vollem Halse lachenden Georg betrachtete, um so mehr belustigte mich die Geschichte, und ich lachte so sehr, daß mir das nasse Hemd wieder ins Wasser fiel. »Ei, willst du es denn nicht wieder herausfischen?« fragte Georg, noch halb erstickt vor Lachen. Eine geraume Weile konnte ich ihm vor Lachen keine Antwort geben; endlich aber stieß ich unter schallendem Gelächter die Worte hervor: »Es ist ja gar nicht mein Hemd! Es ist deines!«
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