Damals hatte man noch ein wenig vom Charme des Liebesnestes gespürt, das dieser Ort unter dem letzten König gewesen war, isoliert von der Welt und doch viel mehr Teil von ihr als jetzt, da jeder Baum und jeder Weg so künstlich schien. Manchmal kam es ihm vor, als ob nun so offensichtlich der Tod in allem stecke, daß nur stärkste Schönheit, wie ein opulentes Parfüm, ihn zu überdecken vermochte. Daß dies gelang, war der Zaubertrick der neuen Zeit, aber es war eben ein Zaubertrick. Anders als Lenné hielt er den Gärtner gerade nicht für einen Maler oder Dichter, seine Kunst trat immer an die Stelle von etwas anderem. Mit allem, was er tat, machte er etwas anderes zunichte. Das mußte bedacht sein. Die Erde war nicht endlos.
Derlei ging Fintelmann durch den Kopf, während er gar nicht bemerkte, daß es immer noch furchtbar still am Tisch im Eßzimmer des Kastellanshauses war, auf dessen weißem Tischtuch die Kaffeetassen standen, die keiner anrührte. Der Alte bemerkte weder den Blick seiner Schwägerin, die, im Schoß das Stickzeug, ins Leere der weißen Fläche starrte, als wäre die Freude über Gustavs Rückkehr schon aufgebraucht, noch, wie ebenjener unverwandt Marie ansah, die diesem Blick ruhig standhielt. Und sie, die Zwergin, den Kopf noch immer in Höhe der Tischplatte, war es denn auch, die die Situation löste.
»Ich zeig dir, wie alles geworden ist«, sagte sie ruhig.
Als brächte ihre Stimme die Zeit, die sich für einen langen Moment gestaut zu haben schien, wieder in Fluß, begann die Tante mit einem tiefen Seufzen erneut zu sticken, und der Onkel nickte, als käme es auf seine Zustimmung an, und griff dabei nach seiner Tasse. Und wie als Kinder gingen Gustav und Marie wenig später nebeneinander zur Schloßwiese hinauf, und die Sonne blendete ihre entwöhnten Augen, nachdem der Vormittag grau und verhangen gewesen war. Und erst, als sie den Rosengarten hinter sich hatten, zögerte Gustav weiterzugehen, wohl, weil die Geräusche der Tiere, die er noch nicht kannte, jetzt deutlich zu ihnen herüberdrangen.
Marie war all das Grunzen und Krächzen, Brüllen und Wiehern, all das Prusten und Keckern, Krakeelen und Schnaufen längst vertraut, gab es doch kaum mehr einen Punkt auf der Insel, an dem man ihm entging, und so sah sie sich lächelnd nach Gustav um, der am Rand der Schloßwiese stehengeblieben war. Sie wußte, daß sie nicht wußte, was er dachte oder fühlte, aber sie wußte, das änderte nichts daran, wie sehr sie ihn liebte. Nur seine Angst müßte sie ihm nehmen. Ihn nur für einen Moment vergessen machen, was sie für ihn gewesen war. Sie wußte nicht, was ihr den Mut gab, an diese Möglichkeit zu glauben.
»Komm schon«, sagte sie, »du mußt die Tiere sehen!«
Während die eine der beiden Sichtachsen, die Lenné von der Schloßwiese aus in den Wald hatte hineinschneiden lassen, den Blick auf die Meierei am Ende der Insel freigab, eine weiße Fata Morgana vor dem Blau der Havel, schien die andere auf geheimnisvolle Weise direkt in den Wald hineinzuführen. Zumindest war es so, wenn die Bäume belaubt waren, doch auch jetzt im Winter sah man von da, wo sie jetzt standen, kaum mehr als eine rotziegelige Giebelecke und eine gußeiserne Zaunspitze von der Menagerie hinter dem kahlen Geäst von Büschen und Bäumen. Das Brüllen der Tiere kam von dort, und dorthin ging Marie jetzt, und Gustav folgte ihr zögernd, immer im Abstand eines Schrittes.
Das Lamahaus markierte den Eingang zur Menagerie. Der flache Bau im italienischen Stil nebst Turm und eingezäuntem Hof, mit einer Fontäne darin, hob sich so deutlich von den knorrigen Eichen und den nordischen Birken ab, daß jeder die Sorgfalt begriff, mit der hier in der fremden Fauna ein mildes Klima erkünstelt worden war. Außer den Lamas gab es neuholländische Strauße, die mit bedächtigem Schritt das Gehege durchmaßen, braune Guanakos und westindische Hirsche. Auf dem Balkon des Turms trieben Papageien ihr vorlautes Spiel, weithin rufende rote und blaue Aras.
»Professor Hegel«, sagte Gustav mit einem Blick auf die Vögel, »schilderte einmal in seiner Vorlesung die Papageien am Amazonas. Da meldete sich einer meiner Kommilitonen, der in jenem Erdteil gewesen war, und meinte, die Papageien dort seien in Wirklichkeit aber ganz anders. Weißt du, was Hegel antwortete?«
Marie schüttelte den Kopf.
»Um so schlimmer für die Wirklichkeit!« Gustav lachte laut und triumphierend.
Marie hatte Körner für die Lamas dabei, die sie nun auf ihre kleine Hand schüttete und den Tieren durch den Zaun hinstreckte. Sofort kamen sie heran. Eines von ihnen, das größte, schaffte sich Platz vor den anderen, und Marie ließ zu, daß es mit seinen weichen, mit einem dünnen Bart umgebenen Lippen die Körner ganz vorsichtig in sich hineinleckte. Gustav sah ihr dabei zu und musterte schweigend das fremdartige Tier.
»Ich lese gerade wieder einmal Rousseau«, erzählte Marie, nur um etwas zu sagen.
»Ja?« fragte Gustav so überrascht, daß Marie erklären zu müssen glaubte, wie sie zu solcher Lektüre kam. Dabei hatte sie noch nie über ihre Bücher gesprochen.
»Solange Mahlke noch hier war, habe ich mir die Bücher von ihm ausgeliehen, jetzt ist der Onkel so freundlich, sie mir aus Potsdam, aus der Kösterschen Leihanstalt, holen zu lassen. Und dann gibt es im Schloß ein Büchergestell mit alten Bänden, wohl noch von der Gräfin Lichtenau, die habe ich alle gelesen. Kennst du Bougainvilles Description d’un voyage autour du monde ? Das hat mir sehr gefallen. Erinnerst du dich noch an das Otaheitische Cabinett?«
»Gewiß.«
»Weißt du: Immer, wenn ich über die Südsee lese und die Menschen dort, muß ich an unsere Insel hier denken. Und wenn ich dann lese, wie warm es dort ist und daß die Menschen nichts anhaben als Ketten aus Blumen und Muscheln und wie das Meer dort glitzert, kommt es mir so vor, als könnte es hier ebenso sein.«
»Hegel sprach einmal vom Aufstand der Sklaven dort unten.«
»Rousseau sagt, wir sind verloren, wenn wir vergessen, daß die Früchte allen und die Erde keinem gehört.«
Marie ließ die restlichen Körner von ihrer Hand ins Gehege rieseln und drehte sich zu Gustav um. Sein Blick überraschte sie. So ernst und neugierig hatte er sie noch niemals angesehen. Und sie hatten noch niemals so miteinander gesprochen.
»Für Hegel traten schon die ersten beiden Menschen, als sie sich begegneten, in einen Kampf auf Leben und Tod ein. Aber nicht um Besitz oder etwas anderes kämpften sie, sondern um reine Anerkennung.«
Anerkennung, dachte sie, und noch einmal: Anerkennung. Sie nickte. Zuallererst kämpfen wir mit Blicken, dachte sie.
»Komm mit«, sagte sie leise.
Lenné hatte die verschiedenen Käfige kunstvoll so an den Waldrain setzen lassen, als stünden sie schon immer da. Vom Lamahaus kam man zunächst an den Adlern vorüber und dann zu den Affen, deren Zwinger Kletterstangen enthielt, auf denen die Tiere zu ihrer Unterhaltung Carrousel drehten. Als Marie und Gustav sich näherten, steigerte sich ihr Geschrei zu einem ohrenbetäubenden Tohuwabohu, wobei den Hauptteil des Lärms die drei Paviane veranstalteten, von denen Gustav sich angewidert abwandte, als er die blumenkohlhaften, feuerroten Hinterteile der Weibchen gewahr wurde. Marie übersah Gustavs Unwillen geflissentlich und begrüßte die beiden weißbärtigen Meerkatzen, die, kaum stand sie vor dem Käfig, sich schon mit ihren langen Fingern in den Draht krallten und sie mit ihren traurigen Augen musterten. Wie die Tiere in der Kälte zitterten.
Gustav konnte nicht glauben, was er sah: Marie küßte die kleinen Affen und empfing Küsse von ihnen. Und auch die Ouistiti oder Seidenäffchen kamen jetzt heran, und am Deckendraht des Käfigs pendelten, mit aufgeregt gespitzen Lippen, die beiden Klammeraffen.
»Widerlich«, stieß Gustav hervor.
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