In all dem rastlosen Tun blieb fast unbemerkt, daß Gustavs Brüder einer nach dem andern weggingen, was Marie jedesmal beim Abschied weinen ließ, weil sie wieder an Gustav denken mußte und daran, wie sehr sie ihn vermißte. Er war, nachdem er die Insel zum Militärdienst und Studium verlassen hatte, kaum einmal mehr hier gewesen, so daß der Aufbruch zu seiner großen Reise, vor nun beinahe schon drei Jahren, fast keinen Unterschied gemacht hatte. Es gab ihn nicht mehr für sie. Manchmal kamen Briefe, in denen er dem Onkel berichtete, was er erlebte und sah, und in denen er stets am Schluß alle auf der Insel grüßen ließ. Marie mochte sich einbilden, in dieser Floskel mitgemeint zu sein, wenn sie auch wußte, daß es nicht stimmte. Als ihr, um sie damit zu trösten, daß alle Veränderung auch etwas Gutes habe, der Onkel anbot, ihre Dachkammer gegen das komfortablere Zimmer der Jungen zu tauschen, das nun frei war, entschied sie, daß alles so bleiben sollte, wie es war.
Doch es bleibt nichts, wie es ist. Am 18. Oktober 1828 las Marie, als sie wieder einmal allein im Eßzimmer des Kastellanshauses saß, in der Vossischen Zeitung etwas, das ihr sehr zu Herzen ging. Dabei schien ihr die Mitteilung, daß in den Räumlichkeiten der Preußischen Seehandlung in der Jägerstraße am Gendarmenmarkt allerlei ausgestellt werde, was die Mentor nach Berlin mitgebracht habe, zunächst ganz belanglos.
Die Mentor , eine ältere, zweideckige Fregatte von dreihundertsiebenunddreißig Registertonnen, in Vegesack neu verzimmert und gekupfert, mit sechs Kanonen bestückt und einer Besatzung von einundzwanzig Mann, hatte die Preußische Seehandlung erworben und von Bremen aus mit schlesischem Linnen über Kap Horn nach Chile zur ersten preußischen Weltumsegelung geschickt. Marie las, daß das Schiff zunächst die Sandwich-Inseln erreicht und vor Honolulu vor Anker gegangen sei, was man dort alles an Bord und daß man anschließend Kurs auf Kanton in China genommen habe, wo man Tee kaufte, um schließlich über Batavia und St. Helena nach Swinemünde zurückzukehren. Es wurden all die Kostbarkeiten aufgezählt, die man im Laufe dieser Reise erworben hatte, wobei es sich nicht nur um Handelsgüter, sondern auch um natur- und kunstwissenschaftliche Stücke handelte, die nun in Berlin der geneigten Öffentlichkeit vorgestellt wurden, um vielleicht bald einen anderen, dauerhaften Ort in der Stadt zu finden. Und damit dem künftigen Museum der Aufseher nicht fehlt , hieß es in der Vossischen Zeitung schließlich, und dieser Satz elektrisierte Marie, ist auch ein Freiwilliger von den Sandwich-Inseln mit eingetroffen. Harry, so wird er gerufen.
Marie klopfte das Herz bis zum Hals bei der Vorstellung, daß nun ein Mensch aus jener Weltgegend, in die sie sich hinträumte, seit sie zum ersten Mal das Otaheitische Cabinett des Schlosses betreten hatte, in der Stadt war. Begierig las sie seine Beschreibung: Harry mag ungefähr 15 – 18 Jahre alt seyn, die Menschenrasse, von der er stammt, gehört nicht zu den Negern, steht ihnen jedoch durch die schwärzliche Hautfarbe und etwas platte Nase ziemlich nah, unterscheidet sich jedoch durch wohlgebildete Lippen und ein glattes, langwachsendes weiches Haar, sein Teint scheint etwas broulliert, am Arm und im Gesicht ist er tätowiert. Er scheint sehr gelehrig, freundlich, munter, arbeitsam. Deutsche Worte spricht er geläufig nach, wenn sie nicht zuviel Konsonanten haben, besonders scheint ihm das »R« ganz zu fehlen. Eine ganz besondere Freude äußerte der Insulaner über einen Herrn von ziemlich starkem Embonpoint, er lief auf ihn zu und umfaßte ihn mehrmals, so daß man wirklich besorgt war, es möchte sich der jedem Insulaner eigentümliche Appetit, der einst Cook das Leben kostete, bei dem jungen Freiwilligen zu regen anfangen.
Immer wieder suchte und entdeckte Marie in den folgenden Monaten Zeitungsberichte über jenen Harry, die sie alle begierig las. Daß er beim Präsidenten der Preußischen Seehandlung, jenem Christian von Rother, der den Löwen hergebracht hatte, ein Quartier zugewiesen bekommen habe, wo er sich als Lakai bei Tische nützlich mache. Daß Wilhelm von Humboldt ihn besucht habe, um ihn über die Sprache der Sandwich-Inseln zu befragen. Marie sah aus dem Fenster im Arbeitszimmer des Onkels hinaus, ohne etwas zu sehen. Vor ihrem inneren Auge erstand die Palmenwelt der Südsee, und die Vorstellung stellte sich gewiß leichter her, weil die beiden Cacadus, die der Onkel seit kurzem hier auf einer Messingstange hielt, einer rot und einer blau, dazu jubilierten. Auf der Fensterbank, unscheinbar, der Kelch aus Rubinglas, an dem ihr Blick schließlich hängenblieb.

»Erzählen Sie mir doch bitte von Berlin, lieber Schlemihl. Ich hab’ die Insel ja noch nie verlassen!«
Schlemihl berichtete Marie bereitwillig, wie er am Morgen in Berlin losgegangen war. Von dort, wo er wohne, sei es nur ein Katzensprung zum Potsdamer Tor hinaus, und eben dort gehe, am Meilenzeiger an der Esplanade, die Extrapost ab, aber auch die täglich zwischen den Residenzen verkehrenden Journalièren, wie man die Kutschen des Hofverkehrs nannte, weil sie auch die neuesten Zeitungen beförderten. Und Schlemihl erzählte, wie er dort einstieg und die Stadt hinter sich ließ, im Vorüberfahren die Kirchturmglocke von Schöneberg gehört habe, am Schwarzen Adler vorbeigekommen sei, dann den Steglitzer Park passiert und schließlich Zehlendorf erreicht habe, wo man im Dorfkrug die Pferde wechselte. Und gleich ging es weiter durch die Pappelallee auf Stimmings Krug am Wannsee zu, und dann durch den Wald bis Stolpe, drei Stunden habe die Fahrt gedauert. Und von Stolpe aus, aber das kenne sie ja, sei er dann zu Fuß zur Fähre gelangt.
»Und wie ist es dort, wo Sie in Berlin leben?«
»Es ist nicht weit vom Spittelmarkt«, sagte er und schilderte, wie er manchmal am Sonntag durch das Prenzlauer Tor hinausspaziere und hinauf nach den Windmühlen auf dem Prenzlauer Berg, wo man einen schönen Blick über die Stadt habe, und daß er auch mitunter gern einmal in dem riesigen Gastgarten dort sitze und ein Bier trinke. Und wie wunderbar es auch Unter den Linden sei, schwärmte er. Am Morgen sei die Straße belebt von eilenden Arbeitern und Angestellten, später dann hielten die Wagen der höheren Beamten vor ihren Dienststellen, vor der Universität spazierten die Studenten auf und ab. Pünktlich auf die Sekunde beginne am Mittag die Garde mit dem Aufzug der Wache. Danach werde es für ein, zwei Stunden still, und der Nachmittag gehöre dann den Bummlern, den Offizieren, den Kindermädchen und den drallen Spreewalddamen in ihren auffälligen Trachten.
»Und?« fragte Marie.
»Manchmal läßt sich der König, im grauen Mantel und auf dem Kopf eine schlichte Offiziersmütze, immerzu grüßend, in einem schlichten zweispännigen Wagen in den Tiergarten fahren.«
»Und?«
»Manchmal gehe ich in die Konditorei Kranzler, direkt an der Kreuzung zur Friedrichstraße, um die internationalen Zeitungen zu lesen, die man dort hält. In den Hamburger, Kölner oder auch Breslauer Blättern finden sich oft Nachrichten, die die Berliner nicht zu drucken wagten.«
»Und?«
»Wenn es im Spätherbst noch einen schönen Tag hat, zieht ganz Berlin durch die Linden nach dem Tiergarten hinaus, der Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, einfach alle, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere. Und kaum ist man durch’s Brandenburger Tor, bedrängen einen schon die Charlottenburger Fuhrleute, doch aufzusteigen für eine Tour. Aber alles strömt zu Klaus & Weber , wo schnell die Plätze besetzt sind, der Kaffee dampft und die Elegants ihre Cigarros anzünden. Ach, kennten Sie das alles doch, Mademoiselle! Ich wünschte, ich wäre ein Callot oder ein moderner Chodowiecki, um Ihnen das bunte Treiben vor Augen stellen zu können!«
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