RE:
Nein, zuerst: Bei dir?
Eine Minute später
AW:
Okay, zuerst: Bei mir. Aber davor musst du mir noch die ausständigen Fragen beantworten. Das ist ein faires Angebot, meine Liebe.
Vier Stunden später
Betreff: Fragenkatalog zwei
Gut. Bringen wir es hinter uns:
1) Wieso habe ich nach Boston wieder Kontakt zu dir aufgenommen? Wieso wohl? — Weil das Dreivierteljahr »Boston« das schlimmste Dreivierteljahr seit der offiziellen Spaltung von Jahren in vier Viertel war. Weil der Mann der Worte sich wortlos aus meinem Leben geschlichen hatte. Feige, durch eine Hintertür im Postausgang, die mit einem der grausamsten Botschaften der Gegenwartskommunikation verriegelt war. Der Spruch begleitet mich bis heute in meine Träume (und wenn die Technik es böse meint, jederzeit auch wieder in meine Mailbox): ACHTUNG. GEÄNDERTE E-MAIL-ADRESSE, blablabla.
2) Leo, unsere »Geschichte« war noch nicht fertig. Flucht ist nie der Endpunkt, immer nur dessen Hinauszögerung. Das weißt du ganz genau. Sonst hättest du mir nicht geantwortet, neuneinhalb Monate danach.
3) Wie denke ich heute über die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung geführt hatten? — Leo, was ist das für eine Frage? Was sollen das für Umstände gewesen sein? Dir war die Sache mit mir zu viel geworden, zu viel oder zu wenig. Zu wenig für deine emotionelle Investition, deine illusionistischen Ausgaben. Zu viel für den praktischen Gewinn, deine realen Einnahmen. Das Unternehmen Emmi hat sich nicht mehr gerechnet. Du hattest die Geduld mit mir verloren. Das, lieber Leo, waren die Umstände, die zu unserer E-Mail-Trennung führten.
4) Jetzt wird's spannend: Wie konnte ich Bernhard verzeihen? — Leo, ich habe diese Frage jetzt mindestens zwanzig Mal gelesen. Ich verstehe sie nicht, ehrlich nicht. WAS hätte ich Bernhard verzeihen können sollen? Dass er mein Ehemann ist? Dass er unserer E-Mail-Liebe im Wege stand? Dass er dich durch seine Existenz letztendlich in die Flucht geschlagen hat? Leo, worauf zielt deine Frage ab? Das musst du mir erklären.
5) So, und zum Abschluss: Wie konnte ich dir verzeihen? Ach, Leo. Ich bin bestechlich. Schöne E-Mails von dir — und ich verzeihe dir alles, sogar neuneinhalbmonatige Kunstpausen. Fertig!!
Zehn Minuten später
Kein Betreff
So, mein Lieber, und jetzt verrätst du mir, ob sich durch unsere Treffen etwas bei dir verändert hat. (Und natürlich: was.) Handinnenflächenpunktberührung und Wangenkuss, Emmi.
Am nächsten Abend
Betreff: Leo?
Leo?
Am nächsten Morgen
Betreff: Weckruf
Leo?
Leeeooo?
Leo eo eo eo eo eo eo eeeeeeeeooooooooo??
Le e e e e e e e eeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeooooooooo???
Elf Stunden später
Betreff: Treffen
Liebe Emmi, können wir uns noch einmal treffen? Ich muss dir etwas sagen. Es ist wichtig, denke ich.
Zehn Minuten später
RE:
«Pam« ist schwanger!
Drei Minuten später
AW:
Nein, Pamela ist nicht schwanger. Pamela hat nichts damit zu tun.
Hast du morgen oder übermorgen irgendwann kurz Zeit?
Eine Minute später
RE:
Klingt dramatisch! Wenn es eine gute Nachricht ist, die du mir plötzlich so dringend persönlich zu überbringen hast, dann: Ja, ich habe »irgendwann kurz Zeit«!
Zwei Minuten später
AW:
Es ist keine gute Nachricht.
40 Sekunden später
RE:
Dann verkünde sie mir schriftlich. Aber bitte noch heute! Ich habe morgen einen schweren Tag. Ich muss wenigstens ein paar Stunden schlafen.
Zwei Minuten später
AW:
Bitte, Emmi, lass uns lieber in den nächsten Tagen einmal in aller Ruhe darüber reden! Und jetzt zerbrich dir nicht den Kopf und geh ins Bett. Ja?
40 Sekunden später
RE:
Leo, ich lasse mich gerne trösten. Aber ich lasse mich nicht VERtrösten. Nicht von dir. Nicht auf diese Weise. Nicht mit den Worten »Zerbrich dir nicht den Kopf und geh ins Bett«. Also sag schon!
30 Sekunden später
AW:
Emmi, bitte, glaub mir, das Thema gehört nicht in die Gute-Nacht-Mailbox. Darüber müssen wir von Angesicht zu Angesicht reden. Auf ein paar Tage kommt es dabei wirklich nicht an.
50 Sekunden später
RE:
LLL, SSS!!!
(Lieber Leo Leike, sprechen Sie sofort!!!)
Zehn Minuten später
AW:
Okay, Emmi: Bernhard weiß von uns. Zumindest wusste er von uns. Das war der Grund, warum ich mich zurückgezogen hatte.
Eine Minute später
RE:
??? Leo, was ist das für eine absurde Behauptung? Was soll Bernhard gewusst haben? Was gab es da überhaupt zu wissen? Und wieso willst du das wissen? Wenn das wer wissen müsste, dann doch eher ich, denke ich. Leo, mir scheint, du hast dich da in eine schräge Verschwörungstheorie verrannt. Ich bitte um Aufklärung!!
Drei Minuten später
AW:
Emmi, bitte frage Bernhard! BITTE REDE MIT IHM! Es liegt nicht an mir, sondern an ihm, diese Sache aufzuklären. Ich habe nicht gewusst, dass er dir nie davon erzählt hat. Ich habe es mir nicht vorstellen können. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte, du willst mit mir einfach nicht darüber reden. Aber du weißt es anscheinend wirklich nicht. Er hat es dir bis heute nicht gesagt.
Zwei Minuten später
RE:
Leo, langsam mache ich mir Sorgen um dich. Hast du Fieber? Wo schwebst du mit deinen Fantasien? Warum in aller Welt soll ich Bernhard auf dich ansprechen? Wie stellst du dir das vor? »Bernhard, wir müssen reden. Leo Leike sagt, du weißt von ihm, von ihm und mir, um es genau zu nehmen. Wer Leo Leike ist? Du kennst ihn nicht. Das ist der Mann, den ich selbst nie gesehen hatte und von dem ich dir nie erzählt habe. Du kannst ihn also gar nicht kennen. Nun behauptet er aber hartnäckig, du weißt von ihm, du weißt von uns (…).«
Leo, bitte, krieg dich wieder ein, du machst mich nervös!
Eine Minute später
AW:
Er hat unsere E-Mails gelesen. Er hat mir anschließend eine E-Mail geschrieben. Er hat mich gebeten, dich einmal zu treffen, um dich dann für immer in Ruhe zu lassen. Daraufhin habe ich den Job in Boston angenommen. So war es, in aller Kürze. Ich hätte dir das lieber ins Gesicht gesagt.
Drei Minuten später
RE:
Nein. Das gibt es nicht. Das ist nicht Bernhard. Das würde er niemals tun. Sag, dass es nicht wahr ist. Nein, das kann nicht sein. Leo, du weißt gar nicht, was du da anrichtest. Du lügst. Du zerstörst alles. Das ist eine ungeheuerliche Verleumdung. Das hat Bernhard nicht verdient. Warum tust du das? Warum machst du alles kaputt zwischen uns? Oder bluffst du? Ist das ein Scherz? Was ist das für ein Scherz?
Zwei Minuten später
AW:
Liebe Emmi, es gibt kein Zurück mehr. Ich hasse mich dafür, aber es standen nur diese zwei Möglichkeiten offen. Entweder mein Rückzug und Schweigen auf Lebzeiten. Oder die Wahrheit. Viel zu spät. Unverzeihlich spät. Unverzeihlich, ich weiß. Ich schicke dir im Anhang die E-Mail, die mir Bernhard vor über einem Jahr, am 17. Juni, unmittelbar nach seinem «Kollaps« beim Wanderurlaub mit den Kindern in Südtirol, zugesandt hat.
Betreff: An Hr. Leike
Sehr geehrter Herr Leike, es kostet mich große Überwindung, Ihnen zu schreiben. Ich gestehe, ich geniere mich dafür, und mit jeder Zeile wird meine Verlegenheit, in die ich mich selbst bringe, größer werden. Ich bin Bernhard Rothner, ich glaube, ich muss mich Ihnen nicht näher vorstellen. Herr Leike, ich wende mich mit einer großen Bitte an Sie. Sie werden verblüfft oder gar schockiert sein, wenn ich die Bitte ausspreche. Ich werde im Anschluss daran versuchen, Ihnen die Beweggründe dafür darzulegen. Ich bin kein großartiger Schreiber, leider bin ich das nicht. Aber ich werde mich bemühen, in dieser für mich unüblichen Form all das auszusprechen, was mich seit Monaten beschäftigt, wodurch mein Leben nach und nach außer Tritt geraten ist, mein Leben und das meiner Familie, ja auch das Leben meiner Frau, ich glaube, ich kann das schon richtig beurteilen, nach all den Jahren unserer harmonischen Ehe.
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