Deine Frage: »Was kann ich für dich tun?«, hast du soeben selbst beantwortet. Streichle meinen Berührungspunkt. Lieber!
Eine Minute später
AW:
Das tue ich. Aber das tue ich nicht für dich, sondern für mich. Denn diesen Punkt kann eben nur ich fühlen, er gehört mir, Liebe!
50 Sekunden später
RE:
Irrtum, Lieber! Zu einem Berührungspunkt gehören immer zwei. 1.) Der berührt wird. 2.) Der berührt. Gute Nacht.
Drei Tage später
Betreff: Fragenkatalog eins
Fiona wird achtzehn. Nächstes Jahr ist sie mit der Schule fertig. Ich rede mit ihr nur noch Englisch und Französisch, damit sie es übt. Seither spricht sie überhaupt nicht mehr mit mir. Sie will Stewardess oder Konzertpianistin werden. Ich rate ihr zu einer Kombination: Klavierspielerin im Flugzeug, fliegende Pianistin, da wäre sie konkurrenzlos. Sie ist hübsch, schlank, mittelgroß, blond, hellhäutig, sommersprossig, wie ihre Mutter es war. Sie »geht« seit einem halben Jahr mit Gregor. Mit Gregor zu gehen bedeutet, dass jede Person männlichen oder weiblichen Geschlechts, mit der sie sich die Nächte um die Ohren schlägt, »Gregor« heißt. Offiziell verbringt sie jede Nacht bei ihm. Der Arme weiß und hat nur leider nichts davon. »Was macht ihr die ganze Zeit?«, frage ich. Da lächelt sie, so verrucht sie kann. »Sex« im angedeuteten Zustand ist noch immer die beste Erklärung für auskunftsunwillige Jugendliche. Es erklärt sich von selbst. Fiona muss kein Wort darüber verlieren. Sie muss nur ein paar sexualpädagogische Verhütungsmonologe über sich ergehen lassen.
Jonas ist vierzehn. Er ist noch ein Kind. Er ist sensibel und anhänglich. Ihm fehlt die Mutter, er braucht mich so sehr. Er hält die Familie zusammen, ganz fest, mit enormem Kraftaufwand. Die Energie fehlt ihm in der Schule. Er fragt mich alle paar Tage, ob ich seinen Vater noch lieb habe. Leo, du hast keine Ahnung, wie er mich dabei ansieht. Es gibt für ihn nichts Schöneres, als uns beide glücklich zu sehen, und er ist unser beider Mittelpunkt. Manchmal schubst er mich seinem Vater regelrecht in die Arme. Er will unsere Nähe erzwingen. Er spürt, dass sie uns langsam verloren geht.
Bernhard, ja, Bernhard! Was soll ich sagen, Leo? Warum muss ich dir das sagen, ausgerechnet dir? Es fällt mir schon schwer genug, es mir selbst einzugestehen. Unsere Beziehung ist kühler geworden. Sie ist keine Herzensangelegenheit mehr, sie ist eine reine Kopfdisziplin. Ich habe ihm nichts vorzuwerfen, leider. Er gibt sich niemals Blößen. Er ist der gütigste und selbstloseste Mensch, den ich kenne. Ich mag ihn. Ich achte seinen Anstand. Ich schätze seine Aufmerksamkeit. Ich bewundere ihn für seine Ruhe und Intelligenz.
Aber, nein, die »große Liebe« ist es nicht mehr. Vielleicht war sie es nie. Doch wir hatten so große Freude daran, sie zu inszenieren, sie uns gegenseitig vorzuspielen, uns damit gegenseitig zu stimulieren, sie den Kindern vorzuzeigen, damit sie sich geborgen fühlen. Nach zwölf Jahren Bühnenarbeit sind wir müde geworden in unseren Rollen als perfekte Ehepartner. Bernhard ist Musiker. Er liebt die Harmonie. Er braucht die Harmonie. Er lebt die Harmonie. WIR leben sie gemeinsam. Ich hatte mich dafür entschieden, ein Teil vom Ganzen zu sein. Entziehe ich mich, bringe ich alles zum Einsturz, was wir uns aufgebaut hatten. Bernhard und die Kinder haben so einen Zusammenbruch schon einmal erlebt. Das darf kein zweites Mal passieren. Das kann ich ihnen nicht antun. Das kann ich MIR nicht antun. Das würde ich mir nie verzeihen. Verstehst du?
Einen Tag später
Betreff: Leo?
Hallo Lieber, hat es dir die Rede verschlagen? Oder wartest du geduldig auf Teil zwei und drei meiner Familiensaga?
Fünf Minuten später
AW:
Sprichst du mit ihm darüber, Emmi?
Sechs Minuten später
RE:
Nein, ich schweige mit ihm darüber, Leo. Das erhöht die Wirkung. Wir wissen beide nur zu gut, worum es geht. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Leo, du darfst nicht glauben, dass ich todunglücklich bin. Mein Korsett ist mir vertraut.
Es festigt und schützt mich. Ich muss nur darauf achten, dass mir nicht eines Tages die Luft wegbleibt.
Drei Minuten später
AW:
Emmi, du bist 35!
Fünf Minuten später
RE:
Fünfunddreißigeinhalb. Und Bernhard ist 49. Fiona ist 17. Jonas ist 14. Leo Leike ist 37. Hektor, die Bulldoge von Frau Krämer, ist neun. Und Wasiljew, die kleine Wasserschildkröte der Weißenbachers? Da muss ich nachfragen, erinnere mich, Leo! Aber was willst du damit sagen? Bin ich mit 35 noch nicht alt genug, konsequent zu sein? Bin ich mit 35 noch nicht alt genug, Verantwortung weiterzutragen? Bin ich noch nicht alt genug, um zu wissen, was ich mir und meinen Lieben schuldig bin, was ich in Kauf nehmen muss, um mir selbst treu zu bleiben?
Vier Minuten später
AW:
Du bist jedenfalls viel zu jung, um bereits darauf achten zu müssen, dass dir unter deinem engen Korsett nicht eines Tages die Luft wegbleibt, meine Liebe.
Eine Minute später
RE:
Solange Leo Leike per E-Mail von außen und bisweilen sogar live am Cafétisch für Frischluftzufuhr sorgt, werde ich schon nicht in Atemnot geraten.
Zwei Minuten später
AW:
Das war eine gute Überleitung, liebe Emmi. Darf ich dich daran erinnern, dass noch viele meiner Fragen unbeantwortet geblieben sind? Hast du sie gespeichert oder soll ich sie dir noch einmal schicken?
Drei Minuten später
RE:
Ich habe alles gespeichert, was du mir jemals geschrieben hast, mein Lieber. Für heute genug. Schönen Abend, Leo! Du bist ein guter Zuhörer. Danke.
Am nächsten Tag
Betreff: Fragenkatalog drei
Deinen sonderbaren Fragenkatalog zwei hebe ich mir bis zum Schluss auf. Ich springe lieber gleich in die Gegenwart.
Was mir fehlt, Leo? — Du. (Schon bevor ich wusste, dass es dich gibt.)
Was du für mich tun kannst, Leo? — Da sein. Mir schreiben. Mich lesen. An mich denken. Meinen Berührungspunkt streicheln.
Was ich mit dir machen will, Leo? — Das kommt auf die Tageszeit an. Meistens: dich im Kopf haben. Manchmal: auch darunter.
Was du für mich sein sollst, Leo? — Die Frage erübrigt sich. Du bist es bereits.
Wie es mit uns weitergehen soll, Leo? — Weiter wie bisher.
Ob es mit uns weitergehen soll? — Unbedingt.
Wohin? — Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.
Zehn Minuten später
AW:
Da wird aber nicht mehr viel für »uns« übrig bleiben, meine Liebe.
Drei Minuten später
RE:
Das hängt von dir ab, mein Lieber. Ich habe große Reserven.
Zwei Minuten später
AW:
Reserven der Unerfülltheit. Ich werde sie nicht füllen können, meine Liebe.
50 Sekunden später
RE:
Du ahnst nicht, was du füllen kannst, mein Lieber, was du füllen kannst und was du bereits gefüllt hast. Vergiss nicht: Du verfügst über tonnenschwere Gefühlsschränke. Du brauchst sie nur gelegentlich zu lüften.
15 Minuten später
AW:
Was mich interessieren würde: Hat sich durch unsere zwei Treffen etwas bei dir verändert, Emmi?
40 Sekunden später
RE:
Bei dir?
30 Sekunden später
AW:
Zuerst: Bei dir?
20 Sekunden später
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