An der Wand hinter ihrem Pult hingen eine Karte der Sowjetunion, eine Karte Afghanistans und ein gerahmtes Foto des jüngsten kommunistischen Staatspräsidenten Nadschibullah, der, wie Laila von Babi wusste, früher Chef der Geheimpolizei KH AD gewesen war. Darüber hinaus gab es noch weitere Fotos im Klassenzimmer, vor allem von jungen sowjetischen Soldaten, die Apfelbäume pflanzten, Häuser bauten, immer freundlich lächelten und einfachen Bauern die Hände schüttelten.
»Nun«, sagte Khala Rangmaal, »störe ich dich etwa beim Träumen, inqilabi -Mädchen?«
So lautete Lailas Spitzname — Revolutionsmädchen —, denn sie war in der Aprilnacht des Putsches von 1978 zur Welt gekommen –allerdings nahm man im Beisein von Khala Rangmaal das Wort »Putsch« lieber nicht in den Mund. Sie bestand darauf, von einer inqilab zu sprechen, von einer Revolution der arbeitenden Bevölkerung. Verboten war auch das Wort »Dschihad«. Sie leugnete, dass in den Provinzen Krieg herrsche; es könne allenfalls von Auseinandersetzungen mit Unruhestiftern die Rede sein, mit »ausländischen Provokateuren«, wie sie sagte. Und niemand, wirklich niemand wagte es, in ihrer Gegenwart jenes immer weiter um sich greifende Gerücht anzusprechen, wonach den Sowjets nach achtjährigem Kampfeinsatz in Afghanistan eine Niederlage in diesem Krieg bevorstehe. Und das schon bald, weil der amerikanische Präsident Reagan, wie es hieß, den Mudschaheddin Stinger-Raketen zur Verfügung stellte, mit denen sie sowjetische Hubschrauber abschießen konnten. Außerdem, so hieß es weiter, kämen aus der ganzen Welt — aus Ägypten, Pakistan und Saudi-Arabien — Muslime ins Land, um die Rebellen zu unterstützen.
»Bukarest. Havanna«, antwortete Laila.
»Und sind die Menschen dort unsere Freunde oder nicht?«
»Ja, das sind sie, moalim sahib. Unsere Freunde.«
Khala Rangmaal zeigte sich mit einem knappen Kopfnicken einverstanden.
Bei Schulschluss war Mami wieder einmal nicht pünktlich zur Stelle. Laila ging schließlich zu Fuß nach Hause, begleitet von ihren Klassenkameradinnen Giti und Hasina.
Giti war ein mageres kleines Mädchen mit zwei seitlich abstehenden Pferdeschwänzen. Sie sah meist grimmig drein und hielt ihre Bücher wie einen Schild vor der Brust. Hasina war zwölf, drei Jahre älter als Laila und Giti; sie hatte die dritte Klasse wiederholen müssen und machte nun schon ihren dritten Anlauf in der vierten. Was ihr an Grips fehlte, machte sie durch Unfug weg und mit einem Mund, der, wie Giti sagte, einer Nähmaschine gleiche. Es war Hasina, die den Spitznamen der Lehrerin geprägt hatte.
Heute verteilte sie Ratschläge, wie sich unattraktive Verehrer abwimmeln ließen. »Die Methode ist narrensicher und funktioniert garantiert. Ehrenwort.«
»Was soll ich damit?«, sagte Giti. »Ich bin doch noch zu jung für Verehrer.«
»Ach was.«
»Jedenfalls hat noch niemand um meine Hand angehalten.«
»Das muss an deinem Bart liegen, meine Liebe.«
Giti deutete einen Boxhieb auf Hasinas Kinn an und blickte Hilfe suchend zu Laila, die ihr halb mitleidig, halb aufmunternd zulächelte — Giti war das humorloseste Mädchen, das sie kannte.
»Wie dem auch sei, wollt ihr’s wissen oder nicht?«
»Schieß los«, sagte Laila.
»Bohnen. Nicht weniger als vier Dosen, einzunehmen wenige Stunden bevor der zahnlose Lümmel kommt, um dir seine Liebe zu gestehen. Aber aufgepasst, meine Damen, das genaue Timing ist entscheidend. Ihr müsst das Feuerwerk zurückhalten, bis es Zeit ist, ihm seinen Tee einzuschenken.«
»Ich werd mich dran erinnern«, sagte Laila.
»Das wird auch er.«
Laila hätte erwidern können, dass sie den Rat nicht nötig habe, weil Babi sie so bald nicht freigeben würde. Babi arbeitete zwar für Silo, in der größten Brotfabrik Kabuls, wo er bei brütender Hitze und zwischen lärmenden Maschinen von morgens bis abends die riesigen Öfen und Mahlwerke beschickte, war aber ein Mann mit Universitätsabschluss. Die Kommunisten hatten ihn aus seinem Lehramt vertrieben — das war kurz nach dem Putsch von 1978 gewesen, anderthalb Jahre vor dem Einmarsch der Sowjets. Babi hatte Laila von klein auf klarzumachen versucht, dass das Allerwichtigste für ihn erstens ihre Sicherheit und zweitens ihre Schulausbildung sei.
»Du bist zwar noch jung, aber ich möchte, dass du jetzt schon eines lernst«, hatte er gesagt. »Heiratsabsichten kannst du aufschieben, nicht aber deine Ausbildung. Du bist ein sehr gescheites Mädchen. Ja, das bist du wahrhaftig. Dir stehen alle Türen offen, Laila. Davon bin ich überzeugt. Und ich weiß auch, dass, wenn dieser Krieg vorüber ist, Afghanistan dich genauso nötig haben wird wie seine Männer, vielleicht sogar nötiger. Denn eine Gesellschaft hat keine Aussicht auf Erfolg, wenn ihre Frauen nicht hinreichend ausgebildet sind.«
Hasina gegenüber sagte Laila nichts von den Worten ihres Vaters; sie erwähnte auch nicht, dass sie glücklich darüber war, einen solchen Vater zu haben, dass sie stolz war, von ihm so wertgeschätzt zu werden, und entschlossen, zu studieren, wie er es getan hatte. Am Ende der beiden letzten Schuljahre war ihr jeweils das awal numra zuerkannt worden, mit dem die Schule den besten Schüler einer Jahrgangsstufe auszeichnete. Von alldem sagte Laila Hasina gegenüber nichts, denn deren Vater war ein übellauniger Taxifahrer, der seine Tochter wahrscheinlich in zwei oder drei Jahren weggeben würde. In einem ihrer wenigen ernsten Momente hatte Hasina Laila anvertraut, dass ihre Familie bereits entschieden habe, sie mit einem Cousin ersten Grades zu verheiraten, der zwanzig Jahre älter war als sie und eine Autohandlung in Lahore besaß. »Bislang habe ich ihn zweimal gesehen«, hatte Hasina gesagt. »Und beide Male hat er beim Essen laut geschmatzt.«
»Bohnen«, betonte Hasina. »Merkt euch das. Es sei denn…« — an dieser Stelle grinste sie verschmitzt und stupste Laila mit dem Ellbogen an —, »es sei denn, dein hübscher einbeiniger junger Prinz klopft bei dir an. Dann…«
Laila stieß den Ellbogen von sich. Bei jedem anderen, der sich über Tarik lustig gemacht hätte, wäre Laila in Harnisch geraten. Aber sie wusste, dass Hasina es nicht böse meinte. Sie hatte einfach nur ein loses Mundwerk und verschonte niemanden, am wenigsten sich selbst.
»So redet man nicht über andere«, sagte Giti.
»Andere? Wen meinst du damit?«
»Zum Beispiel Kriegsversehrte«, antwortete Giti mit ernster Miene und ging damit der Klassenkameradin auf den Leim.
»Mir scheint, Mullah Giti hat sich in Tarik verguckt. Hab ich’s doch geahnt. Ha! Aber er ist schon vergeben. Hab ich nicht recht, Laila?«
»Ich hab mich nicht verguckt«, entgegnete Giti. »In niemanden.« Die beiden entfernten sich von Laila und gingen streitend weiter.
Laila legte den Rest des Weges allein zurück. Als sie in ihre Straße einbog, bemerkte sie, dass der blaue Benz immer noch vor dem Haus von Raschid und Mariam parkte. Der ältere Mann im braunen Anzug stand jetzt, auf einen Stock gestützt, neben der Motorhaube und schaute auf das Haus.
Plötzlich hörte Laila eine Stimme hinter sich rufen: »He, Gelbhaar. Sieh mal her.«
Laila drehte sich um und blickte in die Mündung einer Pistole.
Die Pistole war rot und hatte einen grünen Abzugbügel. Der Finger am Abzug gehörte Khadim, einem dicken elfjährigen Jungen mit vorstehendem Unterkiefer. Er, der Sohn eines Metzgers, war in Deh-Mazang berüchtigt dafür, Passanten mit den Innereien von Kälbern zu bewerfen. Wenn Tarik nicht in der Nähe war, stellte Khadim Laila in den Pausen auf dem Schulhof nach, belästigte sie mit Anzüglichkeiten und gab wiehernde Geräusche von sich. Einmal hatte er ihr auf die Schulter getippt und gesagt: »Du bist so hübsch, Gelbhaar. Ich will dich heiraten.«
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